Ich saß im Chemieunterricht, als die Durchsage des Direktors durch die Sprechanlage schallte: „Aufgrund der aktuellen politischen Geschehnisse fällt der weitere Unterricht heute aus, um den Schülern und Lehrern die Gelegenheit zu geben, dieses historische Ereignis vor Ort mitzuerleben.“
Meine Klassenkameraden jubelten und fingen an, ihre Sachen zu packen, ich verdrehte nur gelangweilt die Augen.
Ich war fünfzehn und hatte von Politik keinen Plan, obgleich meine Kindheit und Jugend sehr politisiert waren. Geboren und aufgewachsen in West-Berlin, Friedenau um genau zu sein, führte ich ein Leben, als lebte ich in der DDR. Meine Eltern waren Mitglieder der „Sozialistischen Einheitspartei West-Berlins“, kurz SEW, der Schwesterpartei der damaligen SED. Und nicht nur das, mein Vater war Vorsitzender des Kreisbüros Berlin-Steglitz und als solcher oft unterwegs. Meine jüngere Schwester und ich wurden, sobald wir alt genug waren, in die Pioniergruppe geschickt, die einmal wöchentlich Donnerstag nachmittags stattfand. Wir trugen unser blaues Pioniertuch, sagten den Pioniergruß auf und ich frage mich gerade, was wir da eigentlich sonst so gemacht haben, jede Woche. Ich weiß es nicht mehr genau. Ich kann mich an eine Begebenheit erinnern, als uns Gertrud Skubich, mittlerweile schon lange verstorben, ihre KZ-Erfahrungen schilderte, die ich – ich glaube, ich war damals elf oder zwölf – gar nicht richtig verstehen, bzw. einordnen konnte. Ich glaub, manchmal haben wir auch gebastelt und so Zeug. Vielleicht auch mal ein russischer Kinderfilm oder so. Etwas später, mit 13, begann ich, das Parteiorgan „Die Wahrheit“ (der Name ist übrigens ganz dreist von der russischen „Prawda“ geklaut, was nichts anderes bedeutet als „Wahrheit“) auszutragen, manchmal noch morgens vor der Schule, meistens aber danach am Nachmittag. Jeden Tag, von Montag bis Samstag, belieferte ich meine 10 – 12 Abonnenten in Steglitz, mit dem Fahrrad und ganz selten auch mal zu Fuß. Dafür bekam ich 160 harte Westmark (Valuta!!!) jeden Monat, das war ’ne Menge Schotter für einen Teenager damals!
Es war also nicht alles schlecht. Schlecht sowieso nicht, seltsam eher. Denn schon als junges Schulkind und später als Teenie sowieso, bekam ich mit, dass ich irgendwie immer so eine gewisse Nerd-Stellung im Klassenverband hatte. Ich war nie der komplette Outcast, weil ich gute Noten hatte und der eine oder andere schon mal gern von mir abschrieb, aber gerade später auf der Gesamtschule, wo es dann auch wichtig wurde, welche Jeans man trug, und ob man sich Chucks und ’ne Swatch leisten konnte (DIE Statussymbole schlechthin damals, neben der obligatorischen Levi’s 501), hatte ich es mitunter schwer, Anschluss zu finden.
Die Schuld an diesem Sonderling-Status gab ich in meinem damaligen grenzenlosen UNverständnis von Politik der gesamten ostdeutschen Bevölkerung. Warum, weiß ich gar nicht so genau. Ich kannte „Ossis“ nur aus dem Familienurlaub. Wenn unsere Eltern uns sommers oder winters mal nicht in ein Sozialistisches Ferienlager schickten (natürlich in der DDR), fuhren wir als Familie entweder nach Norwegen, das Heimatland meiner Mutter, oder eben in die DDR. Manchmal auch zu Oma nach West-Deutschland, aber meist in die DDR. Versteht mich nicht falsch, Mama, Papa, Ihr habt es gut gemeint, aber die DDR als Urlaubsziel war für einen Teenager wie mich damals das Uncoolste überhaupt. Das erzählte man zu Beginn des neuen Schuljahres nicht gern, dass man im Thüringer Wald, im Harz oder an der Ostsee gechillt hat, während die Klassenkameraden von ihren Erlebnissen in der Provence oder auf Malle (war damals noch total angesagt!) oder sogar den USA berichteten. Das war mir immer furchtbar peinlich, und die Sprüche der anderen setzten mir zu. Meinen pubertätsgesteuerten Frust darüber bekamen (zumindest in Gedanken) dann die Ossis ab, die ich – warum auch immer – dafür verantwortlich machte.
Und als dann die Mauer fiel dachte ich nur: „Scheiße, jetzt kommen die alle hier rüber!“
Was dann auch – kurzzeitig – so war. Man kam in keinen Bus, in keine U-Bahn mehr rein, alles war voller Leute, ich erinnere mich lebhaft daran. Und dass man ständig von irgendwelchen Sachsen gefragt wurde, wö’s denn hior züm Küdamm ginge. Ich fand das alles furchtbar.
Bevor sich jetzt wer echauffiert von wegen „Was können denn die armen Ossis dafür?“ – schon klar! Ich sag’s nochmal: ich war fünfzehn, ein gehemmter und noch ungeküsster Teenager, hatte keinen Plan vom Leben und von Politik erst recht nicht.
Heute sehe ich das Ganze – natürlich – anders. Wenn ich heute Bilder vom Mauerfall sehe, habe ich Pipi inne Augen wie alle anderen auch. Ich hasse auch meine Eltern nicht, ganz im Gegenteil, ich bin ihnen sehr dankbar. Auch wenn ich es damals nicht verstanden habe, es war ein Privileg, so aufzuwachsen, sie hatten die besten Absichten und es hat mir und meiner Schwester ansonsten an nichts gefehlt.
Meine Eltern waren Rebellen und haben mir und meiner Schwester den Rebel-Spirit mitgegeben. Und wenngleich es damals nicht ganz freiwillig und auch irgendwie „anerzogen“ war, diesen Spirit trage ich noch immer in mir.
Und wo könnte ich ihn besser ausleben als hier bei den Blogrebellen?
Ich bin die Neue – und keine Angst, nicht jeder Beitrag wird autobiographisch und politisch sein – aber rebellisch auf jeden Fall!
Etwas viel Simpsons geschaut? Wo gab es denn im Osten eine „Sprechanlage“ in der Schule???
Die Simpsons schau ich tatsächlich gern, ich frage mich allerdings gerade, wo Du das mit Ost-Berlin gelesen hast…? Bin in West-Berlin aufgewachsen. 😀
Kommentarfunktion ist geschlossen.