Es ist der 1. Mai 2009, ein Tag, an den ich mich sehr gut zurück erinnern kann. Ich war von morgens bis abends unterwegs gewesen, hatte den bis dahin perfekten Tag mit lieben Freunden auf dem Mariannenplatz ausklingen lassen. Auf dem Rasen sitzend, Leute beobachtend, die Sonnenbrille auf, leicht angezeckt von Bier und Gras, ewig hätte ich so sitzen können. Doch irgendwann wurde mein Hintern klamm, mit dem Sonnenlicht ging auch die Wärme, mit der Dämmerung wurde es zu frisch, um einfach so ohne Jacke dazusitzen.
Also verabschiedete ich mich und machte mich auf den Weg zum Kotti, um heimwärts zu fahren. Was dann passierte, hat sich mir in mein Gedächtnis eingegraben.
Ich latsche nichts Böses ahnend die Mariannenstraße lang, will rechts die Skalitzer runter zum Kotti, und zuerst fällt es mir gar nicht auf, weil ich Musik auf den Ohren habe, doch nach ein paar Metern schaue ich auf in Richtung Kottbusser Tor und zwanzig Meter vor mir bewegt sich eine Menschenmasse geschlossen auf mich zu.
Eine Wand aus Menschen, die vor irgendetwas davonläuft, und sie läuft schnell.
Ein paar Sekunden später renne auch ich, allerdings habe ich mich umgedreht und renne vor der Menschenmenge her. Die Musik ist aus, jetzt höre ich auch, was da los ist. Sirenengeheul, Menschengeheul, untrennbar miteinander vermischt.
Ich renne die Mariannenstraße weiter, drehe mich um und sehe, wie die Menschenwand weiter die Skalitzer langrennt, am Himmel über dem Kotti sieht man Rauch, es knallt ab und zu. Mein Herz klopft schnell, aber mittlerweile gar nicht mehr aus Angst.
Aus Wut.
Warum? Das will ich Euch gerne sagen.
Der erste Mai war nämlich in Berlin nicht immer von Gewalteskalation zwischen Demonstranten und der Polizei überschattet.
Es gab eine Zeit in den Siebzigern und Achtzigern (möglicherweise auch in den Sechzigern, aber das entzieht sich meiner Kenntnis), da war der erste Mai genau das, was er seit 1886 immer schon war: der Tag der Arbeit, oder Tag der Arbeiterbewegung.
Ich erinnere mich gut daran, dass ich, sobald ich laufen konnte, immer von meinen Eltern auf die Mai-Demo mitgenommen wurde. Vermutlich auch schon vorher, im Kinderwagen eben. Und ich fand das toll, diese vielen Menschen, die zusammen in die gleiche Richtung gelaufen sind, vom DGB-Haus zum Reichstag, jedes Jahr. Der Reichstag, das war für mich als Kind diese riesige grüne Wiese, auf der eine Bühne aufgebaut war, wo Menschen sprachen und Reden hielten. Es gab Würstchen und andere Leckereien. Und wenn ich nicht mehr laufen mochte, nahm mich Papa auf die Schulter.
Der erste Mai, das war das Größte, obwohl ich natürlich gar nicht gecheckt habe, worum es da geht.
Heute weiß ich das allerdings, und was mir heutzutage am 1. Mai so auf den Sack geht ist, dass es den sogenannten Revoluzzern, die sich selbst als Linke bezeichnen, allem Anschein nach nur um Action und Massen-Klopperei geht. Hauptsache, gegen das System. Hauptsache, irgendwer kriegt auf die Fresse.
Gut möglich, dass ich mich täusche, ich hab mich zugegebenermaßen noch nie mit ’nem Vertreter dieser Fraktion unterhalten, aber ich habe ehrlich gesagt, gar keine Lust darauf. Ihr wollt gegen das System sein und plündert in Kreuzberg, wo sie selber nix haben? Zumindest war das damals 1987 so. Da hättet Ihr mal lieber in Zehlendorf oder Charlottenburg Randale machen sollen. Oder einfach den Mund halten und daran denken, worum es eigentlich geht:
Es ging darum, den Acht-Stunden-Arbeitstag durchzusetzen, denn bis dato (1886) war es Standard, sich 12 Stunden jeden Tag den Rücken krumm zu schuften, für eine Handvoll Dollar am Tag. Dafür gab’s grad mal eine karge Abendmahlzeit.
Also wurde am 1.Mai 1886 generalgestreikt in den USA. Landesweit. Zwischen 300.000 und 500.000 Leute legten die Arbeit nieder, wenn mich nicht alles täuscht. Ich hab das alles mal in der Schule gelernt (und auf Wikipedia aufgefrischt), ich weiß nicht, ob in Geschichte oder sogar im Englischunterricht, wegen dem Chicago-Bezug.
Es kam natürlich zu Unruhen, die Polizei erschoss am 3. Mai 1886 bei dem Versuch, Streikende auseinanderzutreiben, sechs Arbeiter, jedoch eskalierte die Lage dann, als am 4. Mai eine Bombe in der Menge explodierte. Man schob den Demonstranten die Schuld in die Schuhe und richtete vier der vermeintlichen Drahtzieher hin – ohne Beweise.
Sechs Jahre nach der Hinrichtung wurde das Urteil vom Gouverneur von Illinois annuliert, da dieser erkannte, dass keinem der Verdächtigten nachgewiesen konnte, etwas mit dem Bombenanschlag zu tun gehabt zu haben.
Deswegen regt mich das jedes Jahr so auf. Weil die Prügler einfach nicht checken (wollen?), worum’s geht.
Hauptsache, wir haben uns mit den Bullen gekloppt, nicht wahr?
Ich muss zugeben, ich hab mich schon mit Leuten aus der linksautonomen Szene darüber unterhalten. Der Tag der Arbeit gehört irgendwie auch ihnen, denn das Weltbild das sie fordern, ist nicht vereinbar mit der Ausbeutung der Arbeiter, wie es heute wie damals geschieht. Das hat aber nichts mit den Krawallen zu tun. Ich hab mich 2010 mal auf dem Kotti umgesehen. Alles voll mit Polizei und schwarz gekleideten krawallgeilen Jugendlichen, dazwischen Photografen mit Fahrradhelmen. Und ständig Böller, Rauchbomben und bengalische Feuer. War nicht ganz ungefährlich. Diejenigen, die Du hier ansprichst fand ich eher selten. Auch in den Gesprächen mit den Leuten, die aus der linken Szene kommen, habe ich erfahren, dass die Meisten darauf eher gar keinen Bock haben und höchstens den Kiez aufsuchen um auf dem MyFest schöne Konzerte zu erleben. Es war in der Vergangenheit mal so, als sie selbst noch jung waren, aber mittlerweile ist der Kotti am 1. Mai grossteilig unterwandert von Krawalltouristen, die überhaupt keine Ahnung haben wovon Du hier schreibst und denen das wahrscheinlich sogar egal ist. Deswegen wär ich vorsichtig, in diesem Zusammenhang von Antifa und Autonomen zu sprechen. Bei den Schwachmaten, die dort den Kampf mit der Polizei suchen laufen meines Erachtens viel zu viele mit Nike-Turnschuhen und schwarzen Markenklamotten rum, als das man noch von Autonomen reden kann.
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