Irgendwann 2002
Es ist 6:45, als wir das Presswerk betreten. Ich verpisse mich – im wahrsten Sinne des Wortes – direkt aufs Damenklo, um mich zu erleichtern und dann umzuziehen. Damenumkleide im Opel-Presswerk? Fehlanzeige.
Ich ziehe drei kleine Handtücher aus meinem Rucksack, damit ich mich irgendwo draufstellen kann, ohne den Boden zu berühren. So ganz ohne Spind ist das schon scheiße, die Klamotten-Schlepperei… Ich beschließe, mich nochmals zu beschweren und die eingangs benutzte Ausrede: „Ziehen Sie sich doch im Hotel schon um!“ dieses Mal nicht gelten zu lassen. Nach einigen Verrenkungen bin ich endlich angezogen und stürze mich ins Vergnügen.
Pedro und Juanmari haben mir schon eröffnet, dass ich mich langweilen werde. Sie haben da mit Tuschier- und Polierarbeiten zu tun, da brauchen sie keine Opel-Interaktion. Da bleiben, bzw. sein sollte ich aber schon – falls was passiert oder man doch mal den Kran oder ’ne Ersatzschraube braucht. Oder was schweißen muss.
Ich treffe Pedro und Juanmari bei einer Tasse Kaffee in unserem „Büdsche“, einem Container, den sie uns da hingestellt haben, mit einer Tür und etwas schallgedämpft, sowie zwei Tischen und mehreren Stühlen drin. Astrein. Ich packe meinen Laptop aus, ich hab noch ’ne Übersetzung, die ich parallel mache.
Pedro hat sich einem großen, dreckigen Klumpen Knete zugewandt und ist sehr vertieft. Zur Veranschaulichung: mit dieser Knete, technisch-offiziell als „Plastilin“ bezeichnet, werden minimalste Höhenunterschiede in einem Presswerkzeug bestimmt, wie genau das geht erspar ich Euch (weil ich es nicht erklären kann).
Juanmari macht „Hausaufgaben“ und trägt die Stunden der Woche in eine Liste ein.
Mein Laptop ist mittlerweile hochgefahren, und ich starte das Übersetzungsprogramm, als Juanmari auf einmal in schallendes Gelächter ausbricht. Ich drehe mich um und kann erst gar nicht erkennen, was Pedro da aus dem Knete-, Verzeihung, Plastilinklumpen geformt hat, also sehe ich es mir aus nächster Nähe an. Es ist eine Kugel, oder vielmehr ein Klops, mit einem Fortsatz, der aussieht wie ein Finger. Ich kann es mir nicht erklären und frage nach: „Qué es eso?“
Pedro erklärt mir, dass es sich um die Abbildung einer weiblichen Brust handele. „Wie jetzt?“ denke ich und sage: „¿Y eso es el pezón?“ Ob das lange Ding dann der Nippel wäre. Pedro bejaht und fängt an zu schwärmen von dieser einen dunkelhäutigen Brasilianerin, deren Brüste und dazugehörige Warzen exakt so ausgesehen hätten. Ich schwöre, den Nippel, den Pedro da nachmodelliert hat, der ist fünf Zentimeter lang.
Ich sage ihm, dass ich das für äußerst unwahrscheinlich halte, aber Pedro hört gar nicht richtig zu. Er betrachtet seine eigene Brust-Nachbildung und kuckt verträumt aus der Wäsche. Liebe Lazer, ich denke mir das nicht aus, aber er liebkost den langen Knete-Nippel gerade mit seinem Daumen, als wäre er echt. Juanmari und ich tauschen einen Blick aus, der gleichzeitig verständnisvoll und absolut verständnislos ist, ich drehe mich um, schüttele den Kopf wie so ’ne alte Oma und setze mich wieder an den Rechner.
Nach einer Stunde schicken sie mich zur Straße 13 (mit „Straße“ sind die Pressenstraßen eines Presswerks gemeint), um etwas bezüglich der geplanten Abpressung morgen in Erfahrung zu bringen. „Lass Dir Zeit!“ sagen sie noch, „No tenemos prisa!“
Mir wurscht, ob Ihr es eilig habt oder nicht, ich mach das am besten gleich, bevor ich’s vergesse.
Also los zur Straße 13. Die Serienproduktion ist in vollem Gange, am Ende der Pressenstraße stehen vier Männer und stapeln die Teile vom Band ab. Irgend ein kleineres Stützteil wird da gerade gefertigt. Und wie ich grad auf dem Weg zum „Pressebüdsche“ bin, also dem Raum, der am Anfang jeder Pressenstraße steht und von dem aus auch alles per Monitor und Lichtschranke überwacht wird, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie einer der Männer, die da am Band stehen, plötzlich zusammenklappt.
Bäm, wird das Band angehalten und seine Kollegen springen regelrecht hin. Sie tätscheln seine Wangen, wie man das halt so macht und müssen ihm aber fast richtig eine kleben, bevor er wieder zu sich kommt. Seltsamerweise wirken sie alle irgendwie ziemlich routiniert dabei, als wäre das nicht das erste Mal. Unbedarft und ein kleines bisschen sensationsgeil nähere ich mich dem Grüppchen und kriege grad so mit, wie der eine Kollege meint: „Hiä, immä die glaische Scherereie im Fasdemonat! Letzt‘ Jahr issä dreimal zusammegeklappt! Des geht doch so ned! Der arme Mann!“
Zu deutsch: der Opel-Mitarbeiter und gläubiger Moslem hält sich an die Fastenregeln des Ramadan und isst erst nach Einbruch der Dunkelheit. Was schon mal zu Schwächenanfällen führen kann, wie das eben eingetretene Ereignis beweist. So ein Metallteil wiegt ja auch ein bisschen was, am Band hinten ist es erfahrungsgemäß schon mal etwas wärmer… Da kann man, so auf nüchternen Magen, schon mal die Contenance, bzw. das Gleichgewicht verlieren.
Nun isser aber wieder zu sich gekommen, der Gute. Ein Kollege hält ihm ’ne Erdbeer-Müller-Milch hin, von der er dann auch, Glaube hin oder her, einen kräftigen Schluck nimmt.
Und, als wäre nichts gewesen, läuft das Band wieder an und die vier machen sich wieder an die Arbeit, und wenn sie nicht gestorben sind, dann stapeln sie auch heute noch. Und achten den Ramadan und auf ihre Kollegen.
[…] findest du den ersten Teil Ramadan in Rüsselsheim und hier weitere Beiträge der Serie Geständnisse einer […]
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