Geständnisse einer Dolmetscherin: Ramadan in Rüsselsheim II

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Frühsommer 2002

Ich glaube, es war ein Mittwoch, als diese Geschichte passierte. Diese Geschichte, die so merkwürdig ist, dass man sie sich nicht ausdenken kann.

Pedro hat schlechte Laune, Juanmari ist eher gut drauf. Ich bin neutral, d.h. zu müde, um zu wissen, ob ich gut oder nicht so gut drauf bin.
Es ist so früh, dass es noch nicht einmal Frühstück im Hotel gibt, und das Lunchpaket enthält zwar feste Nahrung und auch ein bisschen Obst, jedoch ist all das unwichtig. Auf die flüssigen Nahrungsmittel kommt es an. Flüssig, heiß und bitte anregend. Im Notfall tut’s auch ein koffeinhaltiges Erfrischungsgetränk. Doch weder das eine noch das andere ist für’s erste aufzutreiben. So langsam stellt sich auch ein Hungergefühl ein und es kristalliert sich der Beginn von äußerst schlechter Laune bei mir heraus.
Müde und hungrig? Gib mir zu essen oder sperr mich ein und schmeiß den Schlüssel weg.

Der Himmel ist so blau, als hätte noch nie ein Mann einer Frau das Blaue vom Himmel gelogen, um sie ins Bett zu kriegen. Die Sonne lacht, und ich bin mir sicher, sie lacht mich aus. „Janz schön früh, wa, Du Opfer?“ lästert sie von oben herab. Warum die Sonne berlinert weiß ich auch nicht. Es ist viel zu früh und die Atmosphäre zu koffeinarm, um derartigen Fragen auf den Grund zu gehen. „Jeh du ma schön malochen, ick baller heute dafür voll uff dit Presswerk ruff, wa! Soll ja keener friern!“ setzt sie gehässigerweise hinzu und mir schwant fürchterliches, wenn ich an die zwanzig Meter hohe Halle denke, die oben in der Decke nur sehr kleine Öffnungen (also „Fenster“) hat.

Die 50m vom Eingang bis zur Pressenstraße 13 kommen mir vor wie 500, so heiß ist es bereits. Ich tippe auf 33°C.
Also verkrümel ich mich direkt ins Pressenbüdsche, die safety shoes habe ich schon an, denn das Büdsche ist K.L.I.M.A.T.I.S.I.E.R.T. Ich danke dem kobaltblauen Himmel da draußen, der noch all sein jungfräuliches Blau hat.
Dieter-Peter (Name von der Verfasserin ausgedacht, da der eigentliche Name bereits aus dem damaligen Datensatz gelöscht wurde) nickt mir zu. Dieter-Peter spricht nicht viel, aber er drückt verlässlicher als jeder andere die Knöpfe an der Presse und an der Steuerung im Büdsche. Dieter-Peter beschränkt sich hinsichtlich der zwischenmenschlichen Kommunikation auf das absolut Wesentliche („danke“, „bitte“, „Morsche“, „tschüss“), trägt die Haare in alter Rockermanier lang und strähnig, und ist aller Wahrscheinlichkeit nach schon mit der Kippe im Mundwinkel auf die Welt gekommen. Dieter-Peter ist Gruppensprecher. Dieter-Peter ist der Boss.

„Schon aufgerüstet?“ frage ich knapp und meine damit nicht die Aufstockung von Pershing-II-Raketen und Cruise Missile-Beständen. „Aufrüsten“ nennt man den Vorgang, wenn der Werkzeugsatz auf die Pressentische gesetzt wird. „Hammer grad feddisch, mer könnte eigentlisch loslege!“
Von Pedro und Juanmari noch keine Spur. „Die ziehen sich grad um, sind sicher gleich soweit!“
Da schlendern sie auch schon herbei. Mittlerweile haben sich noch Boris und Raimund (ja genau, auch diese Namen sind ausgedacht) im Büdsche eingefunden.
„Unn?“ fragen sie mich. „Fange mer an, odä?“ Ich übersetze und Pedro bejaht. „Als dann“, murmelt Dieter-Peter und drückt den Knopf.

Die Presse fährt an. Und bleibt direkt wieder stehen. Alle drehen sich nach einem kurzen Blick auf den Computer-Bildschirm (dort werden Fehler und Störungsursachen angezeigt) zu den Monitoren. Laut Computer wurde eine der Lichtschranken unterbrochen.
„Was soll jetzt des?“ Für seine Verhältnisse ist Dieter-Peter richtig aufgebracht. „Da is doch nix!“ Auf dem Monitor ist tatsächlich nicht zu sehen, was die Lichtschranke unterbrochen haben könnte. Also wieder ein paar Knöppe drücken, alle Lichtschranken wieder scharf. Dieter-Peters Gesichtsausdruck verrät leichte Anspannung. Auch wenn er mit Worten spart, seine Mimik spricht Bände.

Die Presse fährt an. Und bleibt stehen. Die pure Empörung steht Dieter-Peter ins Gesicht geschrieben. „Verdammte Schaise!“ ruft er. „Was is denn da?! Da is doch nix!“ Boris grinst. „Aja, zeig mal dei Fingä, hast dir die Händ ned gewasche?“ witzelt er. Dieter-Peter straft ihn mit Nichtachtung, eine seiner leichtesten Übungen. Er ist schon wieder die Knöppe am Drücken, checkt die Monitore, schließt hier ein Bildschirmfenster, öffnet dort ein anderes. Dieter-Peter is on fire. Er will’s jetzt wissen.
Die Lichtschranken sind wieder scharf. Ich beobachte ihn und es kommt mir vor, als drückte er den Anfahrknopf in Zeitlupe. Super-Slo-Mo.

Unsere Nerven sind zum Zerreißen gespannt.

Die Presse fährt an. Und bleibt stehen. Was für ein Krimi!
Es ist vorbei mit Dieter-Peters Beherrschung. Er steht wortlos auf, und es ist ihm egal, dass seine Contenance verlustig gegangen ist. Dieter-Peter is not amused.
Er stapft wutentbrannt nach draußen und hinterlässt einen Schwall heiße Luft, die von draußen hereingeweht wird und sich mit dem Duft seines Rasierwassers mischt. Raimund schüttelt lachend den Kopf, Boris und ich kucken uns an und ziehen wissend die Augenbrauen hoch. Dieter-Peter ist bekannt dafür, dass er keinen Spaß versteht, wenn es um Störungen bei der Abpressung geht. Wir sehen ihm hinterher, er verschwindet am Ende der Straße hinter den Pressen.
Es verstreichen zwei oder drei seeeehr lange Minuten. Wir sind alle sehr gespannt, was Dieter-Peter wohl herausgefunden hat.
Er taucht wieder auf, dort am Ende der Pressenstraße (klingt wie ein Schlagertitel von Howard Carpendale), und es sieht aus, als würde er lächeln. Er kommt näher und tatsächlich, er lächelt nicht nur, er lacht.
Dass ich das noch erleben darf!

Er betritt das Büdsche, sämtliche Augen erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Er grinst immer noch und fängt an zu lachen.
„Des glaubt ihr mir ned!“
„Ei, was dann?“ fragt Raimund.
Und Dieter-Peter erzählt: „Ihr kennt doch de Ali, de Neue, der wo immä sei Halal-Fleisch speziell mitbringt?“ Boris und Raimund nicken, ich zucke mit den Schultern.
„Ei, jedefalls weiß isch jetz wieso de Lichtschrank ebe immä durschbroche wurd.“ Er macht ein Gesicht, als hätte er die geheime Coca-Cola-Rezeptur entschlüsselt und herausgefunden, dass es sich bei der Spezial-Zutat bloß um ein bisschen Bonbonspucke von der Oma des Coca-Cola-Erfinders handelt. Er genießt es, wie wir ihn alle gespannt wie ein Flitzebogen ankucken.
„Ei, jetz sag halt, sonst geh isch!“ sagt Boris und Dieter-Peter hat Erbarmen:

„Ei, isch wollt nur schaue, was da immä de Lischtschrank durschbrischt, komm isch da hin, liegde da, de Ali, mit sei Gebetsteppisch unn is am Beten! Liegt da uffm Teppisch und murmelt vor sisch hin, kommt hoch und zack! Durschbrischte de Lischtschrank.“

Wir kucken uns an und brechen dann in schallendes Gelächter aus.

Ali betet jetzt woanders, glaube ich.
Kannste dir nich ausdenken so’n Scheiß.


Hier findest du den ersten Teil Ramadan in Rüsselsheim und hier weitere Beiträge der Serie Geständnisse einer Dolmetscherin.