Die Lebenslinien des Hans-Joachim Roedelius

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Stuart Baker vom britischen Label Soul Jazz brachte es auf den Punkt. In einer Panel-Diskussion sagte er, Roedelius-Musik sei ein gut gehütetes Geheimnis, das von Generation zu Generation weitergegeben werde. In den 1970er Jahren prägte Roedelius mit den Bands Cluster und Harmonia den elektronischen Flügel jener heterogenen, von britischen Musikjournalisten »Krautrock« getauften Bewegung, doch in Deutschland interessierte sich lange kein Mensch dafür. Während Can oder Tangerine Dream hunderttausende Platten verkauften, verdiente Roedelius nie viel Geld mit seiner Musik — allerdings inspirierte er so viele andere Künstler, dass sein Werk trotzdem bis heute weiterlebt.

Dieses Werk macht einem den Zugang schon aufgrund seiner schieren Masse nicht leicht — wir sprechen von grob geschätzt 200 Tonträgern. Vor allem erstaunt die Vielseitigkeit der Musik, die dieser Mann mit der einzigartigen Biografie erschaffen hat. Er machte elektronische Musik, bevor es dafür überhaupt eine Bezeichnung gab. Bis heute wechselt er spielerisch zwischen experimenteller Elektronik und zeitgenössischer Klassik, Kammer- und Weltmusik, New Age und Ambient.

Zum Beispiel gehört Brian Eno zu den Menschen, die Roedelius einiges zu verdanken haben. Der Cluster-Fan war damals, Mitte der 1970er Jahre, bis ins niedersächsische Forst gereist, wo Roedelius und seine Mitstreiter Dieter Moebius und Michael Rother in einer Art musikalischer Landkommune in einem Fachwerkhaus lebten, das sie selbst restaurierten. Anschließend ging Eno wieder nach Hause, erfand Ambient und wurde das, was er heute ist. Für »Lifelines« erdachte Eno die Installation »Für Achim«, einen feierlich beleuchteten Schrein, in dem Roedelius-Musik auf Schleife lief.

Zu den Roedelius-Verehrern, die selbst Musikgeschichte schrieben, gehören auch Peter Kruder (Kruder & Dorfmeister) und Richard Fearless (Death In Vegas). Fearless erzählte im Panel, dass er sich schon als Jugendlicher unsterblich in den Harmonia-Song »Watussi« verliebt habe; Kruder hingegen hatte die Cluster-Platten bei älteren Stoner-Freunden in Wien gehört. Die unauffindbaren Platten entdeckten Fearless und Kruder in den 1990er Jahren in Japan, ein paar davon spielten sie am Freitagabend in ihren DJ-Sets. Das Publikum saß dabei übrigens auf dem Boden. Roedelius-Musik eignet sich nicht unbedingt zum Tanzen.

Am Samstag las der Kurator des Festivals, HKW-Musikleiter Detlef Diederichsen, aus der unveröffentlichten Roedelius-Autobiografie. Auf eine traumatischen Kriegs- und Nachkriegskindheit folgte die vollständige Ablehnung bürgerlicher Werte, was Roedelius sogar ins DDR-Zuchthaus brachte. In den folgenden Jahrzehnten arbeitete der Freigeist in den seltsamsten Erwerbsberufen, von Butler bis Gemüsegärtner. Nicht ohne Stolz berichtet er davon, wie er als barfüßiger, langhaariger Masseur seinerzeit die Kulturbohème von Berlin und Paris als Kunden bediente.

Roedelius erzählt auch, wie er 1963 zum ersten Mal nach Korsika gereist sei, dort zunächst als Haushälter für eine wohlhabende Familie gearbeitet habe und später als Hausmeister in eine Naturistenkommune gezogen sei. Zu den Musikern des korsischen Gesangstrios Caramusa verbindet ihn eine langjährige Freundschaft; die französische Lyrik von deren Kopf Jean-Jacques Andreani untermalte er im Rahmen von »Lifelines« live mit Flächen und Effekten. Im Anschluss spielte er mit dem Kroaten Jurij Novoselic und der Mittelalter-Formation Tempus Transit »russisch-mediterrane Schnulzen«, wie einer der Musiker erklärte.

Den Platz, den der kürzlich verstorbene Dieter Moebius über Jahrzehnte bei Kluster/Cluster einnahm, füllten im Verlauf des Festivals immer wieder andere Musiker aus: Ob der elektronische Kammermusiker Tim Story, mit dem Roedelius eng befreundet ist, oder Stefan Schneider, der die Krautrock-Tradition seit den 1990er Jahren mit seinen Bands Kreidler oder To Rococo Rot fortführt; ob Singer/Songwriter Lloyd Cole oder Christoph H. Müller, mit dem Roedelius im Sommer erst das Album »Time Has Come« veröffentlicht hat.

Jeder liebt einen anderen Roedelius. Der eine verehrt besonders die Werke für Soloklavier, der andere mag die Kollaborationen. Und dann gibt es noch die Cluster-Fans. Gegründet im Jahr 1969 im Umfeld des von Roedelius initiierten Zodiak Art Labs, nannte sich die elektronische Improvisationsgruppe zunächst Kluster, nach dem Ausstieg von Conrad Schnitzler dann Cluster. Seit Dieter Moebius das Projekt im Jahr 2010 endgültig verließ, heißt die Band nun Qluster. Zu dritt gaben Roedelius und seine deutlich jüngeren Mitstreiter Onnen Bock und Armin Metz am Samstagabend eine Kostprobe dessen, was der Beuys-Schüler Schnitzler das »freie Spiel« nannte.

Roedelius erschien zu den allermeisten Veranstaltungen, um Fragen zu beantworten und sich für das Interesse zu bedanken — braungebrannt und kahlrasiert, in Flip-Flops und roten Hosen. Diesen 80-Jährigen in seinem Element erleben zu dürfen, ist inspirierend. Ambient? War seine Idee. Andere mögen den Ruhm und das Geld abbekommen haben, doch die Anerkennung seines Werkes beginnt immerhin zu seinen Lebzeiten. Einen eigenen Synthesizer habe er nie besessen, erzählt dieser Pionier der elektronischen Musik noch. Und bestätigt auf Nachfrage, dass er erst seit ungefähr drei Jahren von der Musik leben könne.

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Foto-Credit: Alexander Gonzales