Ersan Mondtag ist so etwas wie der rebellische Enkel der großen deutschen Theaterregisseure der 50er/60er/70er, die gerade alle mehr oder weniger lautlos in den Ruhestand entschwinden. Doch der 28-Jährige Berliner spielt nicht nur die ganze Klaviatur der kunstvollen Gesellschaftskritik, wie in „Party #4-NSU“ der gleichermaßen verstörenden, wie grandiosen szenischen Lesung/Klanginstallation/Performance/Theater-Party-Crossover der Akten des NSU-Prozess, sondern genießt auch zunehmend die Aufmerksamkeit der Theateröffentlichkeit. Sein Stück „Tyrannis“ wurde als eines von zehn Stücken für das Berliner Theatertreffen nominiert. Grund genug für uns mal bei Ersan nachzufragen, wie der Stand der Dinge ist.
Erstmal: Glückwunsch zur Nominierung für das Theatertreffen! Das kam ja ziemlich überraschend oder hast du vorher schon was geahnt!?
Gerüchte waren im Umlauf, das Übliche halt.
Ich habe mich uneingeschränkt gefreut, auch für mein Ensemble. Mit dem Staatstheater Kassel verbinde ich allerdings nicht die beste Zeit, doch mein Ensemble dort hat Hervorragendes geleistet.
Um was geht es in „Tyrannis“!? Und warum ist das Stück so relevant, dass es nominiert wird!?
Es geht um das Unheimliche, die Angst – auch als Mittel zur Erhaltung einer hermetischen Gemeinschaft. Es ist sehr schwer, zu einer Empfindung vorzudringen. Unsere Gewohnheiten, unser Gedächtnis bemächtigen sich all unserer Erlebnisse, sortieren sie ein, verformen sie, eine echte rohe Wahrnehmung ist sehr selten. Wenn mich die Filme von Lynch oder Bilder von Bacon faszinieren, dann auch wegen ihres Geschicks, Dinge und Vorgänge zu derangieren, sie zu isolieren, seltsam und unheimlich zu machen. Die Dinge verlieren ihre Selbstverständlichkeit, wir nehmen sie auf einmal wieder wahr, auch wenn sie ganz trivial zu sein scheinen. Verhaltensweisen, die wir abspielen, um die ganze chaotische Flut an Eindrücken zu einem ordentlichen Film zusammenzusetzen, in dem wir gemütlich sind und es schön haben.
Wir leben in einer Zeit der Fragmente, der Reste, des Eindrucksmülls, der Splitter, und haben die Sehnsucht, das alles wie die Bruchstücke von antiken Statuen zu kitten. Das schaffen wir auch, indem wir sehend blind werden. Unser Auge rast wie eine Fliege umher, wie eine Fliege auf der Suche nach Nahrung. Das Auge, das sieht, aber nichts erblickt, ist ein derartiges wirres Insekt. Dieses blicklose Sehen erlaubt uns, unserem Gedächtnis nichts unvertrautes, nichts wirklich neues hinzuzufügen, und eine neue Empfindung zu erfahren. Irgendwann trennen wir dann nicht mehr zwischen Dingen und Menschen, sie werden für uns zu Routinen, wie das Klo, die Küche, der Fernseher. Ich möchte ein Seherlebnis herbeiführen, welches den Alltagsrhythmus wieder zerlegt, die tagtäglichen Arrangements ihrer Unschuld beraubt, ein neues Selbstbeobachten erlaubt, weil es das Auge zwingt, sich Dingen zuzuwenden, die es sonst abhakt. Ich möchte das blicklose Sehen sichtbar machen. Und dann darüber arbeiten, was passiert, wenn etwas so Neues, so Fremdes wortwörtlich eintritt, dass es unser geordneter Altag auf keinen Fall mehr auffangen kann und die Begegnung, die die simultative und stabile Welt als Trugbild und instabil entlarvt. In dem Moment beginnt sich etwas zu zerstören. Ein Horror wird sichtbar, der indes die ganze Zeit schon da war, unter dem Firnis der Gewohnheiten. Dieser Horror ist kein Alien oder ein Monster, es ist eher ein Zustand, nämlich von Kontrollverlust. Es muss dazu sehr wenig passieren. Vielleicht muss auch gar nichts passieren.
Es passiert im Grunde sehr wenig an dem Abend, auch wenn die Effekte sehr groß scheinen, man in der steten Spannung ist: was kann denn alles passieren. Deshalb liebe ich Form. Die Form nicht als Rettung, sondern als Markierung des gebändigten Chaos, der monströsen Kräfte, die immer größer werden, je eiserner die Form sich dagegen stemmt. Ein Beispiel – wir haben einen Vergewaltigung nachgestellt, die Schreie aufgezeichnet. Unser Komponist Max hat diese verzweifelten Sprachsplitter, das Röcheln und Jammern, in Noten transponiert, aus den Höhen und Intervallen der panischen Stimme eine Musik, eine sehr höhere Ordnung geschafft. Trotzdem ist diese Vergewaltigung in der Musik verborgen, sie lauert darin. Die Schönheit ist nun wirklich nicht unschuldig, sie ist auch nur eine Gewohnheit. Wenn nun eine solche Form explodiert, soll sie nicht wieder hergestellt werden. Ich will nicht den Tod zeigen, in den sich jemand verlieben kann, den wir uns schön denken. Sondern das Sterbliche, das Verstümmelte, die Verletzung alles bleibt, was der Fall ist. Das kann sich sogar ins Lachen entladen. Wir treffen in der Kunst nicht selten das Paradox an, dass Schrecken Gelächter hervorbringt. Die kalte Form, die etwas erzwingt, ist fühllos, wenn sie zerbricht, werden auf einmal Empfindungen freigesetzt, und des unbändigste Effekt eines Gefühls ist das Lachen.
Eine große deutsche Wochenzeitung schrieb in einer Zusammenfassung der nominierten Stücke über deinen Beitrag: „Ist es gemein zu sagen, dass ihm seine Jugend (er ist kaum 30) und sein Migrationshintergrund dabei wahrscheinlich nicht geschadet haben?“ Wie sehr nerven dich solche Aussagen noch?
Ich erinnere mich tatsächlich nicht mehr daran, einen Migrationshintergrund zu haben. Ehrlich gesagt habe ich mich selber mit diesem Thema noch nie konfrontiert gesehen und schon gar nicht in einer Zeitung. Um das berlinerisch abzuwickeln, es geht mir herzlich an meinem doch sehr hübschen Migrationshintergrund-Arsch vorbei.
An was arbeitest du aktuell und welche Themen sind dir besonders wichtig!?
Für das Thalia-Theater in Hamburg arbeite ich gerade mit dem Dramaturgen Matthias Günther an einer Roman-Adaption von „Schnee“ von Orhan Pamuk. Zusammen mit dem Ensemble, das am Thalia Theater in Hamburg übrigens zu den besten gehört, mit denen ich bis jetzt zu tun hatte, begehen wir den Roman und suchen nach einer möglichen Auseinandersetzung auf der Bühne. Es geht um Gemeinschaft und Individuum. Religion und Atheismus. Körper. Miteinander. Gewalt. Liebe. Verrat. Angst. Es geht um eine republikanische Theatergruppe die einen Theater-Putsch inszeniert, der in einem fiktiven Raum stattfindet doch in den realen übergreift. Es geht um fundamentalistische Demokraten, um extremistische Republikaner. Es geht um den Körper der Frau, aber auch des Mannes. Du merkst, ich befinde mich noch im Entstehungsprozess – nach der Premiere antworte ich gerne mit einer anderen Klarheit.
Momentan interessieren mich diverse Formen der Angst. Diese Auseinandersetzung werde ich auch kommende Spielzeit fortsetzen, auch mit antiken Stoffen.
[…] Als Absicherung stelle ich meistens eine Frage mehr, um auf Nummer Sicher zu gehen. Theater-Regisseur Ersan Mondtag hat diesen Plan allerdings mit Punchlines ohne Ende torpediert, die ich euch nicht vorenthalten […]
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