Ich habe es gefunden, das perfekte Festival für Muffel, und man musste nur ein paar tausend Kilometer weit fliegen. Genauer: nach Lissabon, zum NOS Alive (sprich: „nooosh“), oder nur Alive, wie die Portugiesen sagen, denn NOS ist ja ein Mobilfunkanbieter. Anfang Juli gab es bereits die 10. Ausgabe. Drei Tage, drei Mal 55.000 Menschen, drei Tage Musik, die ich hier in Ermangelung eines besseren Wortes mal „Indie“ nennen will. Sechs Bühnen, ein Café, in dem Fado gesungen wurde, die portugiesische Weltschmerz-Musik, eine Fressmeile und ein Lineup, das Indie-Freunden die Schuhe auszieht: Radiohead, Arcade Fire, Tame Impala… (hier zur Playlist auf Spotify)
Für mich war es das erste Mal. Ich habe zwar selbst oft auf Festivals gespielt, in Schweine- oder Kuhställen, Stagetime 11 Uhr 30. Aber ich war nie als Besucher da. Dazu war ich zu unpassend sozialisiert. Die einzigen Bands, die ich mit 15 kannte, coverten in großen Zelten Hits wie „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“. Oder natürlich „Mendocino“, ach Mendocino: der Sehnsuchtsort meiner Jugend. Und mich mit Gummistiefeln im Dreck suhlen, das gab’s privat schon, dazu musste ich nicht auch noch auf Festivals fahren. Noch nie auf nem Festival, was stimmt nicht mit dir? fragen Freunde. Das sollte nun anders werden.
„Alive“ in Lissabon: Zuckerbomben, Indie und liberale Drogenpolitik
Auf dem „Alive“ wird Festivalgegnern die Angst genommen. Die Musik ist homogen, es gibt keinen gemeinsamen Nenner für alle zwischen 9 und 99 (Stichwort Katy Perry auf dem Southside). Es läuft Indie-Pop-Rock-Dance-Indie-Indie. Nemand muss Bierpaletten und Dosenravioli durch die Gegend schleppen, weil man in der Stadt übernachten kann, oder auf einem Campingplatz samt Supermarkt. Und die deutsche Festivalkultur (Verkleidungen, Bierkatapulte, Bierplanschbecken, Bierhelme), die manchen zuwider ist, gibt es hier natürlich auch nicht. Oder nur in Maßen, aber vielleicht kann man auch das eine nicht ohne das andere haben. Gott erfand das Klavier und der Teufel schickte Richard Clayderman.
Weitere Argumente mögen sein: die liberale portugiesische Drogenpolitik. Und dann natürlich: Lissabon! Auf sieben Hügel gebaut, die älteste Stadt Europas. Portugiesischen Kaffee schlürfen, Zuckerbomben aus der Bäckerei holen, schöne Menschen ihre gestählten Körper oder Bäuche durch die Gegend führen sehen. Ideal, um einen Urlaub vorne oder hinten dranzuhängen.
Aber nun zum Festival selbst. Am Ufer des Tejo findet sich das Gelände, kurz vor der Mündung in den Atlantik. Oder ist es schon der Atlantik? Egal. Auf einem großen Parkplatz mit dem unparkplatzhaften Namen Passeio Marítimo de Algés, eine Viertelstunde vom Zentrum entfernt, findet sich das Spektakel mit all seien Sponsorenbüdchen, deftigen Fressbüdchen mit deftigen Preisen, und den etwas größeren Büdchen, in denen die Bühnen untergebracht sind.
Es gibt ja Künstler, die sind so groß, dass man sich gar nicht vorstellen kann, wie sie zum Beispiel einen verstopften Abfluss freikriegen. Thom Yorke von Radiohead ist so jemand. Entsprechend groß ist die Vorfreude. Und die Konzerte beginnen frühestens um 18 Uhr, da gibt es am Partypool am Campingplatz viel Zeit zum Fiebern. Noch gibt man sich mit „I’m too sexy“ zufrieden, die Mitarbeiter grillen ein Schwein am Spieß. Und später liegen nur fünf Minuten Busfahrt zwischen Right Said Fred und Radiohead.
Beginn auf dem „Alive“: Es schrammelt wie im JUZ
Donnerstag, 18 Uhr, The 1975 eröffnen, britische Post-Popper. Es gibt viel Glitzer, viel Glamour, zumindest im Sound. Ich sagte es ja bereits, Mendocino ist meine Referenzgröße, was weiß ich schon. Aber auf jeden Fall eine gebührende Eröffnung: Es kracht, es bläst, T-Shirts werden gelüftet und auf viele Gesichter wird ein Lächeln gezaubert.
Später kommt ein Mann mit Glatze und zu großem Sakko auf die Bühne. Es schrammelt wie im JUZ. Der Timetable verrät: Das sind die Pixies. Wie es die Techniker schaffen, dass die Anlage der größten Festivalbühne wie Garage klingt, nötigt mir höchsten Respekt ab. Die Musik der Pixies verstehe ich einfach nicht, aber die Band hat auch ohne mich schon genug Fans. Am Ende machen die Chemical Brothers den Sack zu. Das ist natürlich weniger Indie, stört aber keinen. Wer nicht tanzen mag, kann sich von Weitem die Videoinstallationen angucken. Später wird’s dann zu laut und lärmig, so dass sich dann einige mit zugehaltenen Ohren lieber zu den kleinen Bühnen verziehen oder gleich den Bus zurück zu Right Said Fred nehmen.
Freitag. Bei den Foals werden Instrumente eingesetzt, die ich zuletzt in der Grundschule in der Orff-Gruppe gesehen habe. Beeindruckend! Auch spielen sie ihren großen Hit „My Number“ schon relativ am Anfang des Sets, das finde ich immer sympathisch. Dazwischen gibt es aber auch viel Indie-Füllmaterial. Tame Impala warten mit „Feels Like We Only Go Backwards“ zwar fast bis zum Ende, aber das verzeiht man ihnen. Sie sind halt auch lässige Australier, die Musik könnte besser zu Meer und Sonnenuntergang nicht passen.
Radiohead: genial, wenn sie halt wollen
Und dann stehen irgendwann endlich Radiohead da. Alive, sozusagen. Ich habe ja ein sehr zwiegespaltenes Verhältnis zu ihnen. Künstlerisch schütteln sie so manche Genialität einfach aus dem Handgelenk, die andere in einem Leben nicht zustandebrächten (z. B. einen nicht verwendeten James Bond-Titelsong, der selbst James Bond wie einen Gymnasiasten aussehen lässt). Und dann sind sie ständig am Jammern wegen Streamingdiensten und zeigen sich manchmal merkwürdig dünnhäutig.
Mir schien die Band relativ lustlos, gar nicht richtig bei der Sache. Aber wie gesagt: Mendocino. Und viele sahen das anders, zum Beispiel dieser Kritiker, der schlichtweg begeistert war („No less than immersive, spiritual and sublime„), der aber auch irgendwie von allem sehr begeistert war. Macht euch euer eigenes Bild! Hier gibt’s das Konzert von Radiohead in voller Länge:
Das von Radiohead intellektuell verknotete Gehirn entspannten dann Two Door Cinema Club. (Junge Junge, hat sich der Sänger mittlerweile verwachsen!) Das Rezept ist immer das Gleiche: kurzes Intro, dann ab die Post. Natürlich nicht besonders künstlerisch. Aber sie holzen richtig durch und sind dabei ungleich erfrischender als Radiohead.
Arcade Fire: Wären wir drinnen, flöge das Dach weg
Samstag! Unser englischer Kritiker schreibt: „The word ‚Radiohead‘ was still echoing around the site in Lisbon on the closing evening.“ Naja, also ich habe davon nichts mitbekommen, bin erst mal auf zu Calexico aus Arizona, die ich nur dem Namen nach kannte. Zwei gechillte Gitarrentypen, sagt mir jemand, die ganz lässig was runterspielen.
Es sind dann zwar nicht zwei Typen, sondern gefühlt ein ganzes Salsa-Orchester, es ist nicht lässig, sondern eher infernalisch, und runtergespielt wird auch nichts, sondern ziemlich eingeheizt. Aber davon ab hat alles gestimmt. Jeder Musiker darf ein Solo spielen und wird dabei vorgestellt. Furchtbar oldschool, aber ich mag sowas ja. Am Ende gibt’s sogar eine Verbeugung – natürlich Arm in Arm. Liegt Mendocino eigentlich in Arizona?
Der absolute Höhepunkt des Alive sind meiner Meinung nach Arcade Fire am Samstagabend. Glitzerklamotten, Konfettikanonen und Songs wie maßgeschneidert für die große Festivalbühne. Man fragt sich, wie es je möglich war, dass die mal in kleinen Clubs oder Hallen gespielt haben – ohne dass ihre brachiale Musik die Locations in Schutt und Asche legte.
Später dürfen M83 noch ihren größten Hit spielen (Name leider entfallen, ich glaube „Dü dü dü – düh!“). Und auf der kleinen Bühne kann man sich Grimes ansehen, eine Art kanadisches „Blümchen“, nur cooler und zum richtigen Zeitpunkt. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen.
Ein Fazit zum „Alive“ in Lissabon: Zu viel Indie! Es gibt einfach zu viel, was man sich ansehen möchte. Die Vielfalt ist natürlich groß, aber nicht beliebig groß. Manchmal hätte man sich z. B. eine Katy Perry herbeigewünscht, also einfach einen Künstler, den man sich einfach nicht ansehen will. Aber die Wege sind kurz, man kann leicht die Bühnen wechseln. Und gerade für Anfänger ist es ein „Festival light“. Wer nicht campen mag, findet in der Stadt ein Hostel oder was mit AirBnB. Überhaupt: Es empfiehlt sich, einen Urlaub vorne oder hinten dranzuhängen, weil Lissabon. Weil Kaffee. Weil Gebäck. Weil Fisch. Weil Nachtleben. Wenn man denn schon mal da ist…
Guten Flug und komm bald wieder!
Ach ja, auch portugiesische Künstler gibts zu hören. Zum Beispiel Bernardo Correia Ribeiro de Carvalho Costa – genannt: AGIR. AGIR durfte auf der größten Bühne den letzten Tag des Alive einleiten. Er kam aus einer Art Raumschiff gesprungen, einem Kasten mit Schiebetür. Die Boyband-Haftigkeit der Musik stand im krassen Gegensatz zum harten, tätowierten, gepiercten AGIR, der an irgendjemanden von „Brosis“ erinnerte. Man kann das natürlich uncool finden, aber unterhaltsam war’s. Und unter den Fans gab es so dermaßen viele Portugiesinnen Anfang 20, dass mancher Indie-Shoegazer sich darüber grün und blau ärgern könnte.
AGIR ging nicht einfach von der Bühne, AGIR schenkte uns ein Lied zum Adeus. Er stellte sich in seinen Kasten und winkte heraus. Und als sich die Schiebetür langsam senkte, war ich aus irgendeinem Grund unendlich traurig. Ach AGIR, dachte ich, guten Flug und komm bald wieder. Wer weiß, wo es für ihn nun hingeht. Vielleicht nach Mendocino.