Auf der Suche nach einem Wort im Iran

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Vorwort: Ich habe beim Aufräumen diesen Text gefunden, den ich am Ende meiner ersten Iranreise 2012 geschrieben habe.

Ich war bereits sechs Wochen im Iran und auf der Suche nach diesem Wort, bis es mir jemand sagen konnte, Rechtfertigen! Rechtfertigung, das Wort, das am deutlichsten zeigt in welchem Zustand sich Iran befindet. Im Zustand der andauernden Notwendigkeit sich zu rechtfertigen. Ein Gefängnis, das sich die Iraner selber gebaut haben.

Ein kleiner Bazar im Iran
Ein kleiner Bazar
Wir parken vor einem dieser kleinen Supermärkte, wie es sie im Ballungsraum Teheran-Karaj zu Zehntausenden gibt. Rechts neben uns lassen wir eine Lücke, durch die sich notfalls ein Auto zur Werkstatt daneben drängen kann. Iraner sind gezwungenermaßen hervorragende Autofahrer. Onkel und ich gehen über die Straße ins Reisebüro, eine Einladung für meinen deutschen Stiefvater einreichen. Tante bleibt im Auto.
Als wir zurück kommen steht ein blauer Zamyad, der Typ von Pick-Up Truck, der das Zugpferd der iranischen Kleinwirtschaft ist, hinter uns und versperrt den Weg. Bis oben hin bepackt, wie ein Esel auf der Seidenstraße. Onkel fragt in den Laden, wem der Truck gehöre. Ein Nicken. Ob Sie ihn bitte wegfahren können. Ein verachtendes Nein. „Ich wollte meine Ware hier laden, da stehen sie mir im Weg.
Ich werde ihnen jetzt das Leben auch schwer machen“.
„Agha, mein Herr, ich konnte doch nicht ahnen, dass sie hier auftauchen“, wendet mein Onkel ein. „Agha, ich helfe ihnen die Kisten tragen, damit es schneller geht“, versuche ich entgegen zu kommen. Ein weiteres patziges Nein ohne mir in die Augen zu schauen. Ein Wort gibt sich dem Anderen. „Sehen Sie, Agha, mein Herr. Sie sind Khomeini, Khameini und Ahmadinedschad in einer Person. Wenn Ihnen gefällt, dass die Regierung Ihnen ein Gefängnis gebaut hat, dann gut. Dann verstehe ich nur zu gut, weshalb sie uns jetzt gerade auch ein Gefängnis bauen wollen“.

Ich war 27 Jahre nicht im Iran gewesen und was sie hier machen, habe ich das letzte mal im Kindergarten gemacht, das trotzige Kind spielen. Sie hätten es sich so einfach machen können, Gute Frau, können Sie bitte den Wagen wegfahren? Mein Mann ist nur schnell im Reisebüro, wenn Sie es eilig haben rufe ich Ihn an. Bitte, ja. Hedy, kannst du bitte schnell den Wagen wegfahren? Frau, ich bin in 30 Sekunden wieder draußen, bitte den Herrn kurz zu warten. Fertig. Nein, stattdessen bringen Sie uns in die Situation uns rechtfertigen zu müssen.
Warum wir denn vor dem Laden parken würden. Darf man denn nicht mal mehr vor einem Laden parken, hier ist doch auch kein Schild, dass das eine Ladezone oder ähnliches wäre, woher soll ich denn wissen… und so weiter.
Genau so wie der Perser seinen Gästen bis zum Tode durch Nerven höflich gegenüber ist, genau so rücksichtslos und vorwerfend ist er seines gleichen auf der Straße gegenüber.

Satt in „Klein Paris“

Was uns nach Isfahan bringt. Wir sind früh aufgestanden. 80 Kilometer vor der Stadt auf 2000 Meter Höhe in einem kleinen Dorf, das wegen seiner Sauberkeit und Beschaulichkeit „Klein Paris“ genannt wird, von den Einheimischen in der Umgebung, von denen noch nie einer in Paris gewesen zu sein scheint.
Wie gesagt, 80 Kilometer, also „kurz“ vor der Stadt, für die Menschen der Autofahrernation Iran, die mit den Amerikanern mehr gemeinsam haben, als dem von westlicher Propaganda blindem Intellektuellem lieb sein kann. Bis wir in Isfahan ankommen ist es Mittag. Eine entfernt verwandte Tante besteht darauf uns ins beste Restaurant der Stadt einzuladen. 5 Sterne Hotel, elfte Etage, Drehrestaurant mit Buffet und Panorama-Blick auf die Stadt. Tantchen, vielen Dank. Jedoch haben wir vor nicht mal zwei Stunden gefrühstückt. Und viel Zeit haben wir auch nicht. Ich würde mich sehr freuen, wenn du uns die Stadt zeigst und uns unterwegs was auf die Hand ausgibst, Sand-e-wiche kasif, ein dreckiges Sandwich, oder ein paar Spieße Leber beim Jigari. Wir haben wenig Zeit und keinen Hunger.
Ihr Gesicht erstarrt, als hätte ich sie um das Leben ihres Erstgeborenen gebeten. Als hätte ich ihr ins Gesicht gespuckt und sie als unserer Familie unwürdig beleidigt. Eine Einladung zum Essen auszuschlagen ist im Iran scheinbar so etwas wie ein faux pas mit der Wirkung eines mittleren Erdbebens auf ein Dorf mit Lehmhäusern, in denen Schulkinder das ganze Jahr über frieren.
Ich muss mich rechtfertigen, warum ich denn nicht essen will. Warum ich denn nicht in das Restaurant mit dem tollen Ausblick für meine Kamera möchte. Warum ich den ihre Einladung ausschlage. Ob ich mich nicht erinnere, dass sie mich in Deutschland besucht hätte und ich nun ihr die Ehre mich einladen zu dürfen vorenthalten werde. Ich gebe nach und lasse mich widerwillig füttern. Ich stopfe mich mit Salat und Vorspeisen voll, wundere mich warum es an einem persischen Buffet kein Fleisch gibt, stelle fest, dass uns noch eine Karte für die Fleischspeisen gereicht wird, nachdem ich bereits satt bin und bestelle aus Trotz keine Fleischspeise. Mit bester Laune und in bester iranischer Manier gekünstelt guten Rechtfertigungsargumenten, warum ich denn schon satt sei, schaue ich scheinbar zufrieden auf die sich endlos drehende wiederholende Aussicht.

Wir kommen zu einer Zeit in der Innenstadt an, an der die meisten Museen geschlossen und die Geschäfte ihre Mittagspause halten. Wir bleiben einen Tag länger in der Stadt, was meinem Tantchen die Chance gibt uns mit weiteren üppigen Mahlzeiten bei sich zu Hause beglücken zu können.

Abbas Tante im Iran
Abbas Tante im Iran

Anderer Ort, andere Tante, selbe Mechanismen. Möchtest du Tee? Mittlerweile lehne ich Tee nicht mehr ab. Ja, bitte. Merci, danke. Möchtest du Ghand, Würfelzucker? Nein, merci. Möchtest du Zucker? Nein, merci. Ich trinke meinen Tee immer ungesüßt. Ach echt? Das gibt es doch nicht. Willst du Kuchen dazu, irgendwas süßes? Nein. Trinkst du deinen Tee ungesüßt, man trinkt doch Tee nicht ungesüßt? Soll ich dir dann etwas Obst bringen? Auch nicht? Obst ist gesund, du solltest mehr Limo shirin, süße Lemonen, essen. Wegen der Vitamine. Du isst viel zu wenig Obst. Tante nimmt eine Auswahl an Obst aus dem reichhaltigen Obstkorb direkt vor mir, drapiert diese auf einen kleinen Teller, stellt den kleinen Teller mit einem kleinen Messer noch direkter vor mich und deutet suggestiv an Obst zu essen. Oder willst du was essen? Nein? Schmeckt dir mein Essen nicht? Gestern hast du doch mein Essen gegessen. Abbas, trink deinen Tee der wird sonst kalt. Ich mag meine Tee etwas abgekühlt, danke. Ach echt? Tee muss man doch heiß trinken sonst schmeckt er nicht. Schmeckt dir mein Tee nicht? Willst du lieber was kaltes trinken? Doch, er schme… Soll ich dir Cola bringen? Nein, wirklich nicht, danke! Tochter, gieß‘ Abbas bitte etwas Cola ein. Tochter gießt Cola ein. Abbas trinkt später nach dem Tee aus Höflichkeit und Anstand schale Cola.

Die Rechtsfertigungs- und Höflichkeits-Kausalitätskette

In Iran musst du dich für jedes Verhalten leicht neben der Norm rechtfertigen. Und sei es, dass du keinen Zucker in deinen Tee möchtest. Manchmal habe ich es nicht mehr gewagt, zu fragen warum zum Beispiel die Tür offen steht, aus Angst vor einer Rechtsfertigungs- und Höflichkeits-Kausalitätskette, die zu dem Ergebnis führen würde, dass ich mit mehreren Decken eingehüllt, einem Becher heißem, gesüßtem Tee neben den Gasradiator gesetzt werde und mir den Arsch abschwitze, während drei Personen durch das Haus rennen, um sämtliche Türen und Fenster zu schließen und notfalls neu abzudichten, nur weil ich wissen wollte, warum die Tür offen sei.

Diese ständigen Rechtfertigungen halten die gesamte Gesellschaft in einem Zustand der individuellen Bedeutungslosigkeit. Man darf hier nicht sein, man hat zu sein. Kinder verloben sich nach zwei Monaten, weil sie es nicht ertragen, dass sich Mutter vor den Nachbarn für das „fremde Mädchen“ rechtfertigen muss. Frauen tragen im eigenen Haus Kopftuch vor Freunden der Familie wie vor Fremden, weil sie es nicht ertragen sich vor Anderen rechtfertigen zu müssen, warum sie so freizügig seien. Eltern verbieten ihren Kindern nichts und ziehen eine Generation von egoistischen Arschlöchern heran, weil sie es nicht mehr ertragen sich für die Freiheiten, die sie nicht hatten und nun ihren Kindern gewähren wollen rechtfertigen zu müssen.

Der Passant rechtfertigt sich vor dem Polizisten, der Polizist rechtfertigt sich vor seinem Boss. Der rechtfertigt sich vor dem Gesetz. Das Gesetz rechtfertigt sich vor den Glaubenswächtern und die rechtfertigen sich vor Gott als dessen Stellvertreter auf Erden.

Psychologisch gesehen unterwirft der sich rechtfertigende immer dem Fragenden, sobald er antwortet. Er begibt sich in die Rolle eines Kleinkindes, dass nicht selber entscheiden kann, ob dieses oder jenes nun gut für es ist. So als müsse man ihm diese Entscheidungen abnehmen, als ob der Fragende besser wisse, was es wolle.

Iran ist jetzt dort, wo die DDR wäre, wenn sie Helmut damals nicht freigekauft hätte. Nur dass Iran so reich an Bodenschätzen und Landschaft ist, dass wenn es jemals die Freiheit erlangen sollte und das Embargo, das die Wirtschaft in die Knie zwingt und die Inflation astronomisch hoch ansteigen lässt, weg fällt, ein Land wäre, dessen Menschen es eintausend Mal besser ginge als uns in Europa. Dann würde sich Iran vor Wirtschafts- und Wohlstandsflüchtlingen aus unseren Gefilden nicht mehr retten können.
Und bis dahin rechtfertigen sie ihre eigene Hoffnungslosigkeit.