Ich bin kein gläubiger Mensch. Spirituell trifft es eher. Vieles was auf einer emotionalen und intellektuellen Ebene passiert, versuche ich mit gelassener Weisheit zu begegnen. Gerade, wenn alles über mich einzubrechen droht. Sich dem Gefühl der Ohnmacht hingeben oder einen Schritt nach hinten machen und das Geschehen von außen beobachten. Letzteres bedarf meiner Meinung nach auch einem tiefen Vertrauen in etwas, was größer ist. Größer als ich und die Situation.

Der innere Kompass

So passiert es, dass ich – gerade in schweren Zeiten – meinen Träumen mehr Aufmerksamkeit schenke, Menschen denen ich zufällig begegne und die Gespräche, die dabei entstehen, mehr wahrnehme. Meine Sinne sind geschärft. Alles ist intensiver.

Eins kommt zum Anderen. Ich denke das haben viele interessante Biografien am Ende des Tages gemeinsam. Es beginnt mit einer Idee, einer Inspiration, etwas womit man sich verbunden fühlt. Dann entwickeln sich die Dinge. Gerade wenn man mutig und sensibel für diese innere Stimme, diesen inneren Antrieb ist und Entscheidungen danach trifft, sitzt man irgendwann da und blickt auf ein erfülltes Leben zurück.

Im Wartezimmer

Kürzlich hatte ich eine inspirierende Begegnung mit einer sehr netten, aufgeschlossenen, älteren Dame im Wartezimmer beim Kieferchirurgen. Sie sprach mich an, weil sie mitbekommen hatte, dass ich mit der Sprechstundenhilfe auf persisch gesprochen hatte. „Entschuldigen Sie, bitte. Welche Sprache war das gerade?“ „Farsi, also Persisch.“ Ihr Gesicht strahlte plötzlich. Ich sah sie an. Eine wunderschöne Frau, die ihre Falten wie ein Schmuckstück trug. Weißer Bobschnitt und eine Steppjacke mit einem floralem Muster, die ich so locker auch gerne tragen würde. „Sie sprechen fließend deutsch, sind sie hier geboren?“ „Nein, ich gehöre noch zur ersten Generationen politischer Flüchtlinge nach der Revolution.“ Sie sah mich ernst an. „Empfinden sie denn noch eine Sehnsucht nach ihrem Land?“ „Meine Eltern fühlen diese Sehnsucht stärker, ich denke ich habe da etwas wie ein Gedächtnis, was mich wehmütig macht. Aber ich könnte nicht im Iran leben. Dafür bin ich hier zu sehr sozialisiert.“ „Na klar, sie haben hier ihre Freunde und ihr Leben.“

Empathie und ein Gespräch auf Augenhöhe. Ich schmachtete sie innerlich an! „Ich hatte einen Lebensgefährten aus Südfrankreich. Wir lebten dort. Es war alles erstmal schön, aber irgendwie merkte ich, dass ich meine Wurzeln, mein Land, meine Mentalität vermisse und kam deshalb zurück.“ „Dafür beneide ich sie sehr. Das konnten wir eine lange Zeit nicht. Als Flüchtling hat man diese Wahl garnicht.“ Sie sah mich wieder an, als fühle sie, was ich sage.

Die Humanistin

Wir sprachen über Musik, Bücher und die politische Lage. „Welche Musik hören Sie?“ sie sah mich mit ihren klaren und neugierigen Augen an „Das ist sehr verschieden…“, „hören Sie auch deutsche Musik?“ „Also Schlager höre ich jetzt nicht so.“ „Hören sie Bach?“ „Ja. Bach habe ich für mich entdeckt. Sehr zeitlos. Es kommt ja immer auf die Interpretation an. Ich mag alles was mit modernen Stilrichtungen fusioniert.“ Sie erzählte mir von einem Pianisten, der Bach im Stile von Jazz spielt. „Meinen Flügel habe ich weggegeben, ich höre nicht mehr gut. Auch das Singen geht nicht mehr. Ich war Musik- und Chemielehrerin und habe auch in einem Chor gesungen. Ich treffe die Töne nicht mehr. Ich empfinde keinen Genuss mehr dabei. Aber ich will mich nicht beklagen! Lesen, das tue ich ganz viel.“
Ich notierte mir das Buch, was sie über Trump und Russland gelesen hatte. „Politik verdirbt den Charakter. Auch das Finanzwesen kennt keine Moral! Mafiöse Geschäftemacherei. Und wenn Trump sein Mund aufmacht, dann tut er dies, um zu lügen. Er ist da wo er ist, weil es Russland so wollte!“

Ich muss sie wiedersehen!

Wie bleibt man so klar im Kopf? Das habe ich mich gefragt. Lesen. War es ihr jahrelanges Instrumente spielen? Eine Humanistin, durch und durch. Kurz bevor sie aufgerufen wurde setzte sie sich auf die Kante des Sessels. „Ich danke ihnen. Das Gespräch mit ihnen hat mir die Angst genommen. In meinem Alter sind die Eingriffe beim Arzt immer so eine Sache. Man weiss nicht, wie das Herz und der Kreislauf so mitmachen.“ „Alles wird gut. Ich danke ihnen für das sehr tolle Gespräch. Es hat mich wirklich sehr gefreut!“ Als sie dann aufgerufen wurde kam sie auf mich zu und gab mir die Hand. Ich streichelte ihre Rückhand und wünschte ihr alles Gute.

Auf der Rückfahrt bereute ich gleich, dass ich ihr nicht meine Nummer gegeben hatte. Sie versprach eine gute Freundin zu sein und ich wollte ihr meine Hilfe anbieten, wenn sie sie braucht. Ich denke, ich werde mich nun auf die Suche nach ihr machen. Es fühlt sich so an, als sei das mehr als eine zufällige Begegnung gewesen. Sie verspricht der Blick von oben auf das Geschehen zu sein.