„Your grandfather was called to war. You are being called to sit on the couch!”, schreit das Internet dich an, also, Corona ist Krieg und du bist gefälligst soldatisch, äh, solidarisch! Und du bekommst gleich so ein schlechtes Gewissen, weil du vor zwei Tagen im Rewe heimlich über den Klebestreifen gestiefelt bist. Hättest deiner Vorderfrau, wenn du gewollt hättest, in den Nacken husten können.

Du bist Teil von etwas Großem

Corona ist die „größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg“, tönt es feierlich aus den Rundfunkgeräten. Guterres fordert, den ganzen anderen Firlefanz zu beenden, all die Kriege, die man anscheinend zum Spaß führt. Denn jetzt gilt es, sich auf den „wahren Kampf“ zu konzentrieren. Und du bekommst so ein bedeutungsschwangeres Gefühl in der Brust, so, als wärst du Teil von etwas ganz Großem, etwas, wonach dich deine Enkel später noch fragen werden, sofern du denn überlebst. Oder, wenn sie nicht fragen, wirst du es ihnen einfach erzählen, immer und immer wieder: „Damals, bei Corona, da haben wir Klopapier gegessen…“ Und sie werden flüstern: „Ompa erzählt wieder vom Krieg…“

Dieser Vergleich, der mit dem Krieg, der gibt dir Wichtigkeit, der lässt dein Homeoffice wie Stalingrad aussehen, den drölfzigtausendsten Klopapier-Witz wie einen gefallenen Kameraden. Und neben dir steht deine Notration, die Quarantäne-Snacks, die du schon fast aufgefuttert hast, nach vierzehn Tagen in der selbstgewählten Isolation. Vierzehn Tage, in denen du dich wunderst, dass dein bisheriges Leben sich irgendwie genauso angefühlt hat, nur mit Ausreden.

Du hast Bauchschmerzen. Und Kratzen im Hals. Aber du bist niemand von denen, die gleich in die Notaufnahme rennen, denn du denkst an deine Mitmenschen, du bist soldatisch, äh, solidarisch!

Nie war es einfacher, das Richtige zu tun

Aufgeladen mit diesem Pathos gerätst du in rasende Wut, wenn du bei deiner Ertüchtigungs-Runde im Park die Quarantäne-Verweigerer siehst, die an ihren Shishas züllen, als gäb’s kein Morgen mehr, oder picknicken, als wäre morgen schon gestern gewesen. Du willst sie wachrütteln, ihnen sagen: „Your grandfather was called to war…“, lässt es aber doch, ihr wisst schon, Tröpfcheninfektion. Stattdessen Anruf beim Ordnungsamt, noch ein empörtes Video, einen Post mit Hashtag, à la Til Schweiger. Abstand ist Fürsorge, ihr Deppen!

Und ein digitales Heer von Gleichgesinnten stimmt mit ein: „Totalüberwachung jetzt!“, „An die Wand stellen sollte man die!“, „Anzeige is raus!“

Nie war es einfacher, das Richtige zu tun. Solidarität gleich Sozialphobie. Und doch fürchtest du, dass du dich lächerlich machst. Darum beobachtest du die Zahlen, die Infizierten, die Toten, mit einer seltsamen Mischung aus Voyeurismus, Scham, Bangen und Hoffen. Liest, was das Zeug hält, die vielen Meinungen und Meldungen, die sich zuverlässig widersprechen. Du bist informiert und hast doch keinen Plan, selber denken nützt nichts mehr, man muss schon Virologie studiert haben, oder Endokrinologie, oder so.

Du reißt dich los von deinen Recherchen. 21 Uhr, Fenster auf und klatschen, aber leider wohnst du im Erdgeschoss. Da läuft einer vorbei, ganz nah, und hustet! „Zwei Meter Abstand!“, schreist du. „Ich klatsch dich gleich!“, kommt’s zurück. Du machst das Fenster wieder zu und setzt deinen Aluhut auf. Fühlt sich an wie ein Stahlhelm. Du beginnst zu zittern. Ist das schon die posttraumatische Belastungsstörung?

Angst vor dem Ende der Welt, wie sie war

Nein, es ist nicht Krieg, du hast keine PTBS, es ist nur eine Überdosis Nabelschau. Und Angst. Nicht einmal vor dem Virus, denn du lebst in Deutschland und nicht in der Lombardei, schon gar nicht in den Favelas von Rio, dem Dschungel von Moria oder dem Tschad. Du hast 29,3 Beatmungsgeräte pro 100.000 Einwohner,  gehörst vermutlich nicht zur Risikogruppe und könntest dir im Zweifel mit sauberstem Trinkwasser den Hintern abputzen. Du sitzt in deinem Homeoffice und nicht an der Supermarktkasse oder auf der Intensivstation. Es ist wohl nicht die Angst vor dem Virus, es ist die Angst vor dem Systemcrash, die dich zur Covidschen Volksfront überlaufen lässt. Vor dem Ende der Welt, wie sie war.

Unsere Welt, unsere Gesellschaft, du, wir sind auf Steigerung, auf Wachstum, auf das ewige Rennen im Hamsterrad ausgelegt. Diese Maschine zerbricht, wenn sie nicht läuft, hieß es immer. Doch plötzlich hält sie ein Virus an. Du schleuderst heraus. Wir alle fliegen. Freier Fall. Das kann doch nicht gut gehen. Was wird aus deinem Arbeitsplatz, was aus den öffentlichen Haushalten, was aus unserem Gesundheits- und Sozialsystem? Und was wird aus uns? Es wird ein harter Aufprall, sagen die Ökonomen. „Die Gesellschaft kann sich neu erfinden“, die Soziologen.

Vielleicht gibt es Delfine im Rhein, vielleicht Tote an den Grenzen

Vielleicht wird unsere Welt auferstehen wie Phönix aus der Asche, befreit von der Allgewalt des Geldes, mit Delfinen im Rhein und ständig singenden, superachtsamen Menschen. Vielleicht wird sie garstiger, egoistischer, protektionistischer, autoritärer, weil sie jetzt schonmal Probe läuft. Bürgerrechte werden eingeschränkt. Die Grenzen dicht gemacht. Asylrecht ausgehebelt. Angeblich klauen die USA den Franzosen die Atemschutzmasken unter der Nase weg, wie andere Leute dem armen Rentner das Klopapier.

Ich vermute, wir müssen uns viel von unserem kämpferischen Geist, von der allseits gepriesenen Solidarität, für später aufheben. Das schaffen wir nur, wenn wir aufhören, unsere Ohnmacht in Aggression umzuwandeln und andere Leute mit unseren imaginären Zollstöcken zu pieksen. Stattdessen in uns gehen, um da drinnen nach dem besseren Menschen zu suchen. Genau beobachten, was gerade passiert – politisch, gesellschaftlich. Unsere Privilegien erkennen, und vielleicht die Bereitschaft entwickeln, sie abzugeben. Und das System einmal überdenken, weltweit. Denn wir sind alle vernetzt, vielleicht wird uns das heute klarer denn je. Das würde ich gern meinen Enkeln erzählen. Nicht das mit dem Klopapier. Okay, das vielleicht auch. Gibt auch saulustige Memes dazu.