ALICIA KEYS liefert endlich neue Songs – ihr recht ruhiges siebtes Studioalbum

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Das lange verschobene Alicia Keys-Album führt nun, zum Glück, doch weit weg von den Vorab-Singles. Von denen wies „Time Machine“ stark stampfende Disco-Beats auf und geriet als angenehme, aber nicht gerade charismatische Electropop-Skizze. Das Track-Ende kommt recht plötzlich, und mit langen gesangsfreien Parts und überhaupt sehr wenig Text entzieht sich die Nummer einer echten Songstruktur. Und „Underdog“ sortierte sich im Folktronic-Segment ein, während sich Alicia in der Remix-Version mit Vorzeige-Reggae-Acts, Chronixx und Protoje, das Mikro teilt.

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All diese Abzweigungen kann man jetzt getrost abhaken, kommt Alicia doch hier wieder der von ihr stets gut beherrschten R’n’B-Ballade nahe, lädt sich aber auch deutlich jüngere Kolleginnen und Kollegen ein. Mit denen streift „ALICIA“, wie das Album schlicht heißt, auch mal Dancepop, Cloudrap, Neo-Soul und in Spurenelementen sogar Trap. Wo immer hin die Songs stilistisch ausscheren, da kratzen sie nur sehr vorsichtig an den Genre-Grenzen. Entscheidend fürs Gesamtprodukt ist aber der Eindruck, dass Alicia sich auch nach so langer Zeit im Business immer wieder und für jeden Song eine neue Vorlage stellt und damit mal überrascht und mal nicht.

Eine gewisse Sterilität kann man diesem weitaus nicht besten, aber auch lange nicht schlechtesten Alicia-Album nun leider auch attestieren – womit es eben Pop ist und nicht deep-soulig. Das ist aber kein neues Problem, sondern nach „As I Am“ bereits drei Alben kennzeichnete. Rückblick: Auf „The Element Of Freedom“ ereigneten sich noch ein paar Gefühlsausbrüche („Try Sleeping With A Broken Heart“, „Empire State Of Mind (Part II) Broken Down“) – aber obwohl gerade genau diese Stücke am tiefsten ihre Spuren in Alicias Musikkarriere gruben und bis heute Radio-Airplay erhalten, schlug sie dann den Kurs in gezähmtere Songs mit weniger Laut-Leise-Dynamik, weniger funky Groove und seltener mitsingbaren Melodien ein.

Nicht schlimm, diese Stimme kann einiges anrichten, ohne dass es fad klingt. Trotzdem: Wer die Hits von Alicia aus den 2010er Jahren aufzählen möchte, viel Spaß! Tja, wie hießen die gleich noch mal … Und auch wenn off topic im Review eines neuen Albums – weil es gar so schön ist, hier noch mal „Try Sleeping With A Broken Heart“ (2009). Alleine dieses Kickdrum-Intro …

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Es wäre aber zu einfach, später nur Kommerzialisierung oder Tribute an den Zeitgeist zu analysieren, Ideenlosigkeit schon gar nicht. „She Don’t Really Care/1 Luv“ auf „Here“ (2016) wagte einen unkonventionellen, angejazzten Medley-Versuch mit Vibraphon, und „The Gospel“ lieferte damals einen sehr unmittelbaren Album-Einstieg mit Pathos-Hip Hop vom Feinsten.

Heute führt der Opener „Truth Without Love“ derweil auf die falsche Fährte, indem er maximal geglätteten Soft Soul ohne Beat-Konturen mit mehrschichtigen Gesangsspuren überfrachtet und dann ins Nichts hinein abbricht. Zwar offenbaren noch weitere Titel, dass es viel um Liebe und mehr noch um ihr Fehlen geht („Show Me Love“, „Love Looks Better“, „You Save Me“, …), und musikalischer Skizzencharakter kennzeichnet die Platte mehrmals. Es bricht nicht die ganz große Dramaturgie durch, und zeitlose Hits mit hymnischem Charakter (wie „Empire State Of Mind“) wirft „ALICIA“ nicht ab. Stilistisch ist aber von akustischen Hippie-Harmonien in „Gramercy Park“ über elektronischer geprägte Nummern bis Piano-Style bei aller Beiläufigkeit viel Hinhör-Musik dabei.

Ruhe, Skizzen, verschenkte Chancen, doch viel Aura

Manche verschenkte Chance verdient bei einer so namhaften Künstlerin schon mal eine genauere Analyse. Was etwa die Beiläufigkeit und das bloße Streaming-Futter angeht, reißt zum Beispiel Track Nummer 3 nicht mit: „Authors Of Forever“. Eine dezent pulsierende, vielleicht manchem Cloud-Rap abgelauschte Beat-Linie, pluckert über eine anonyme männliche Autotuning-Vocoder-Stimme. Die Sängerin wirft Binsenheiten in den Raum („Where there’s a light / there must be a shadow“) und Schlager-Metaphern („Cloudy skies, and we makin‘ a rainbow“). Die songwriterischen Schwächen lassen den Track unfertig da stehen und wie einen mühselig arrangierten Remix ohne Substanz verblassen. Sounds für die Callcenter-Warteschleife.

Tja, und doch thront über allem Alicias großartige Stimme. Das Album endet mit dem Track „Good Job“. Er bleibt als schön in Erinnerung und spannt den Bogen zum allerersten Album der Künstlerin und zu ihren atemberaubend romantisch gestalteten Live-Auftritten, in denen jeder einzelne Klavierakkord eine sakrale Aura ausstrahlt. Doch ist das gesamte Album ein „Good Job“?

Alicia Keys 2020
Alicia Keys 2020 (Pressefoto (c) Sony Music)

Highlights gibt es bei allem Phlegma doch etliche. Das intime „Perfect Way To Die“ erscheint als glaubwürdiger Ansatz für eine Interpretin, die gerade ihre Autobiographie herausgebracht hat und darin ihre Kindheit aufarbeitet, während sie hier übers „Forever Young“-Bleiben und gebrochene Versprechen reflektiert und die Zeit anhält. Hinhören lohnt sich auch bei „Love Looks Better“, wobei dort zudem Mittanzen angebracht ist.

Veritable Treffer erwachsen aus etlichen Kollabos. Mit Diamond Platnumz etwa. Da entsteht Reibung durch die gefeature‘te Stimme des Kollegen aus Tansania. Die beiden trotzen einer monotonen Melodie, reduzierten Instrumentierung und einem recht lahmen Beat, der Song trottet in eine fast dubbige Trance hinein und zwingt paradoxerweise zu aufmerksamer Wahrnehmung. „Wasted Energy“ nennt sich der fast schon magische Tune.

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Diamond Platnumz ergreift zum Ende das Wort und beendet das Stück in einer ostafrikanischen Sprache, vermutlich Swahili. Immer wieder hielt der dortige Star in den letzten Jahren als Brücke nach Afrika her, auch bei den Reggae-Brüdern Morgan Heritage. Der Halb-Sänger/Halb-Rapper verkörpert den Fakt, dass der Reggae-verwandte Stil des Bongo Flava den Sprung aus den ’00er-Jahren ins Jetzt geschafft hat. Diamond Platnumz wählt einen panafrikanischen Ansatz und kollaboriert mit Acts aus zahlreichen afrikanischen Staaten. Er ist zwar bei Universal gesignt und recht bekannt, doch dass Alicia auf ihn kam, verdutzt gleichwohl.

Bezug zu Afrika pflegt auch Sampha, mit dem Alicia in verträumten Lounge-Pop eintaucht. Dabei schenkt sie diesen Track „3 Hours Drive“ dem Kollegen, dessen Eltern aus Sierra Leone stammen. Während Alicia sich zurückhält, übernimmt er immerhin 85 Sekunden des Stücks, 96 Sekunden sind instrumental. Bleibt noch ein bisschen Säuseln der New Yorkerin. Das Stück dämpft abermals Tempo und „Lautheit“ des Albums massiv, drängt den Sound auf ein zartes Plätschern zurück, doch hier gelingt das vortrefflich.

Über dieses Feature hinaus überrascht Alicias Verbindung zur deutlich jüngeren Tierra Whack. Diese Rapperin wählte auf ihrem Debüt 2018 eine ungewöhnliche Form, bekannt von The Residents: Jeder Song nur 60 Sekunden. Das gemeinsame „Me X 7“ mit Alicia Keys dauert dennoch seine 3‘33‘‘, leidet zwar unter scharf schnappenden Trap-Beats – ein Opfer an die Ära – und doch fügt sich das Ganze zu einer interessanten Sound-Studie, einem organisch verschmelzenden Duett, das authentisch rüberkommt.

Ein bisschen Neo-Soul-Revival

Khalid, 22, nochmal drei Jahre jünger als Tierra, könnte Alicias Sohn sein. Er ist bei ihr auf dem Label, RCA, und darf für weichen Neo-Soul ‚herhalten‘, tänzelnd im Seichten, gleichwohl schön und extrem süß. Also: Süß im Sinne von ‚extrem schnuckelig‘, aber auch ‚überzuckert‘.

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Zu den beiden Über-Songs des Longplayers tragen Snoh Aalegra im wohlig-kirchlichen „You Save Me“ und (die hierzulande vergessene) Jill Scott im „Jill Scott“ betitelten Track bei. Letzteres ist das musikalisch ‚ausgeklügelteste‘ Stück der Scheibe – Anspieltipp!

Weder legt Soul-Ikone Alicia hier den großen Wurf vor, noch lässt sie sich lumpen. Nachdem dieses Album Nummer Sieben Gerüchten zufolge schon im Januar erscheinen sollte, wurde es danach auf 20. März (Achtung, Lockdown!) und auf 15. Mai (oh nein, Welttournee storniert) geschoben. Mit der Angabe „31. Dezember 2020“ deutete amazon.de danach an, es könne sich noch lange hinziehen.

Dass das Album jetzt ohne großes Begleit-Rauschen plötzlich doch gedroppt wurde, wird jeden Fan wohl freuen: So viel Neues und eine Alicia in so vielen Facetten! Welches der vielen Duette sie live dereinst aufführen kann, ist genauso schwierig zu beantworten wie: wann? Zum Schluss: Alicia live in ihrem Element, mit einem starken Song vom Vorgänger-Album.

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Alicia Keys, ALICIA, ist am 18.09.2020 bei RCA/Sony erschienen.

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