Willkommen auf dem Plattenmarkt in Krisenzeiten! Ein Promoter für Soulmusik erzählte mir kürzlich in einem Radio-Interview, die Leute in seinem Umfeld würden ihm öfter den Eindruck vermitteln, im Lockdown alte Platten wieder zu hören. Die Offenheit für Neues kann in Isolation und Unterversorgung mit neuen Reizen sinken. Gefühlt stagniert alles, da trauen sich auch weniger Bands als sonst, ein ganzes Album zu „verschießen“. Nachdem zwischen Ende November und Mitte Januar wenig passierte – noch weniger, als in „normalen“ Jahren und viele Firmen und Freiberufliche ihre offizielle Weihnachtspause so weit wie möglich ausdehnten (und dann doch incognito weiter arbeiteten), sind am 15. und 22. Januar 2021 nun doch wieder etliche Alben erschienen.
Wenn wir nur diejenigen mit komplett neuem Song-Material und mindestens 30 Minuten Spieldauer zählen – also keine Compilations, EPs, Remix-Alben, usw., dann: ist es aber auch immer noch eklatant weniger als in Zeiten mit Tourneen, offenen Geschäften etc. Dabei scheint ein Genre vergleichsweise unbeeindruckt weiter auf Output zu setzen: Indie-Rock. Alles andere läuft auf Sparflamme, wie ich z.B. im Reggae feststelle. Hier sind die neuen Alben – von denen wir wissen – nach Genres geordnet.
SOUL, R’n’B & CO.:
Genau, was heißt denn eigentlich „komplett neues Song-Material“? Die spektakulärste Veröffentlichung ist doch auf den ersten Blick eher ein 50-Jahre-Jubiläum: „What’s Going On” – mit den Song-Instrumentals und alternativen Einspielungen. Marvin Gaye brachte das Album am 21. Mai 1971 heraus. Doch schon jetzt feiert seine Plattenfirma das Jubiläum, wenngleich nur in einer Streaming-Version. Instrumentals stimmt in diesem Falle auch nicht so ganz. Auch auf diesen hörenswerten Versionen ist die Stimme Gayes mit ein paar gesprochenen Wörtern zu hören.
Der kanadische RnB-Künstler Ryhe, den man oft wegen seines ehemaligen dänischen Duettpartners Skandinaviens Musikszene zurechnet, sucht sein Zuhause. „Home“ heißt die Platte mit teils zerbrechlichem Gesang, vorsichtigen Beats und einem zarten Gesamt-Erscheinungsbild.
Vorteile: Trägt nicht dick auf, ist lässig zum Nebenbei-Gehörtwerden, verzichtet auf modischen Trap.
Nachteile: Die monoton-androgyne Stimme und das immergleiche Tempo (außer in Track 8) nerven nach kurzer Zeit. Es passiert recht wenig.
Das Selbstfindungsalbum strahlt kaum positive Vibes aus, eher Verzweiflung und endlose Introspektion. Kein Trost, wenn man selbst zuhause hockt. Beste Tracks: Das vielversprechende Choral-Intro und Outro sowie das ange-funkte „Helpless“.
Wirklich aus Skandinavien, nämlich aus Schweden stammt Lova Avilde, 21, die wir euch hier noch ausführlich separat vorstellen wollen. Ihre ersten neun Songs wirken so, dass ich ihr aus dem Stand eine große Charts-Karriere zutraue. Spritziger Pop mit RnB-Vibes und Rock-Riffs, witzigen Lyrics, freilich aus ihrer Altersperspektive. Ein Coming of Age-Song als eine Art virtueller Dialog mit ihrem Papa, dem sie dankbar ist, aber auf dessen Rat sie nicht mehr angewiesen ist (denkt sie). Boy-meets-Girl-Probleme. Und vieles mehr, jeder Track erzählt eine Story auf peppigen Dance-Beats, die aber mehr sind als indifferente Electrosoße, sondern einfach gute, runde Pop-Perlen. Weil das so toll ist, geben wir uns auch mit 28 Minuten zufrieden, denn es ist dann doch länger als eine EP. Ein Mini-Album.
Neun Songs können auch 37 Minuten dauern, so bei Jarryd James. Dessen Anhängerschaft findet sich derzeit noch vor allem in seiner Heimat Australien. Sein zweites Album erfindet nicht das Rad neu, auch die Stimme reißt nicht vom Hocker. Schlafzimmermusik, die nicht stört, nett, nicht schlecht. Playlist-Futter. Nebenbei frage ich mich, was aus Neo-Souler Maxwell wurde. Oder ob D’Angelo noch mal was Neues vom Stapel lässt? Und warum Raphael Saadiqs Alben in Deutschland immer untergehen?! Also, neo-souliges Blubbern haben wir schon erheblich stringenter gehört. Mit Track 5, „Don’t Forget“, gelingt aber auch Jarryd ein Boom-Tune, und auch das stolpernde und zugleich fließende „Problems“ (Track 4) finde ich schön.
PROGRESSIVE, WORLD & JAZZ:
Steve Hackett, Lo’Jo, Urban Village aus Soweto, sowie Veronica Harcsa, Anastasia Razvalyeva & Márton Fenyvesi, die Claude Débussy neu aufbereiten, rotieren wir im nächsten Teil für euch.
INDIE/ALTERNATIVE & ART POP:
Still Corners und Midnight Sister stellen wir euch in unserer Art Pop-Serie vor.
ROCK, PUNK, GARAGE, PSYCHEDELIC, METAL:
Wardruna bringen nordische Traditionen in ihren Metal ein. You Me At Six rocken rotzig und kraftvoll, seit 15.01. auf Suckapunch. Klingt genauso wie es heißt. Rezension schenke ich mir. Palberta machen mal sowas von ganz anderem, leisen Lo-Fi-Garage-Punk mit super-schrägen Klangfarben und Disharmonien. Drei Ladies, die wir euch vorstellen müssen, schon um einiges interessanter. VÖ von „Palberta5000“ war am 22.01.
Goldiger Albumtitel, by the way! John Diva & The Rockets Of Love sind eine der wenigen Bands, die noch Classic Rock im Stile der 70er runterhotten, ohne dass es sie damals schon gegeben hätte. „American Amadeus“ lautet der vielversprechende und originelle Albumtitel. Dahinter verbergen sich sägende Gitarren und explosive Schlagzeug-Patterns, kombiniert mit einem Glamrock-Sänger. Kreuzt Led Zeppelin, Mott the Hoople und T.Rex. Ich finde das gut. Aber auf Albumlänge schwächelnd. Den Titeltrack testen lohnt sich.
Lässt man die Wiederveröffentlichungen draußen, bleibt wirklich wenig. Bananagun sind eine Psychedelic Rock-Band mit Freude an quirligen E-Gitarren-Quietschereien und seriösen Bläsersätzen. Auch eine Querflöte darf mit-viben.
Die Stücke des Sextetts variieren zwischen anderthalb und sechs Minuten. Mit etlichen Instrumentals. Ihr im Lockdown versacktes Album „The True Story Of Bananagun“ erschien am 15.01. als Deluxe-Edition. Beach Boys-Frohsinn und Frische inklusive, Anspieltipp „She Now“, die Palette der Platte bringt aber kein Einzelstück auf den Punkt. Jeder Track schert in eine andere Ausbuchtung aus. Süß gemacht und spielerisch perfekt!
Vom Jungs-Quintett shame (klein geschrieben) hatte ich noch nie was gehört. Kommen aus Süd-London, wie ca. gefühlte 72 Prozent aller Indie Rock-Bands. Ihren Akzent hört man, und er strahlt zusammen mit der scharfen Soundfarbe diese Pissed Off-Haltung der Londoner Punk-Explosion von 77 aus. Wo Funk und Punk aufeinander prallen, wird die Geschichte der (wieder aktiven) Stiff Little Fingers und der (wieder aktiven, aber zahm gewordenen) Psychedelic Furs vielleicht von shame beerbt?
Ich stehe nicht auf platten Festival-Rock mit Spaß und ohne das Wälzen sozialer Probleme. Bei Kiwi jr. mache ich wegen des fluffig gespielten Klaviers, der enorm homogenen und enorm hohen Album-Qualität und wegen der charismatischen Stimme des Sängers eine Ausnahme. Kiwi jr. kommen nicht aus der Heimat der Kiwis, sondern aus Kanada. Check! Them! Out!
Den Folktronic-Pop von Moon Taxi hätten wir auch oben zu RnB packen können, würde er sich nicht in der Hälfte des Songs in manisch-depressiven Hooklines der aufgesetztesten Sorte verirren und auf indifferenten Radio-Rock-Pop umschwenken. Die guten und miesen Aspekte des Albums kann man auf einen Schlag im Song „Lions“ abgleichen. Den Albumtitel vergisst man nach dem Hören sowieso.
Auch erschienen:
The Dead Daisies, „Holy Ground“ – Rock’n’Roll / Heavy Rock
POP, FOLK & CO.:
Zu vermelden sind hier Zayn (15.01.), James Yorkston & The Second Hand Orchestra (15.01.) und Why Don’t We (15.01.) Bemusterungen liegen uns hier bis dato keine vor. Infos und Kritik reiche ich nach, falls uns noch Töne erreichen.
Von Sofie Dopha würde ich lieber auch gar nicht bemustert werden. Ihr Versuch, Dua Lipa zu kopieren, nachdem die Cyndi Lauper imitiert hat, stumpft nach wenigen Minuten ab. Ihr Anti Breakup Song zeigt zwar durchaus stimmliches Talent und Ausdruckskraft. Aber die Texte sind dümmlich, fantasielos und ich kenne niemanden, der so spricht, wie sie textet. Außer Morningshow-ModeratorInnen. Neuer Stoff für die ARD-Servicewellen. WDR2 oder so. Mark Forster in weiblich und auf Englisch.
ELECTRO, DISCO & HOUSE:
Kommt extra mit Bicep und Joplyn.
REGGAE & DANCEHALL:
Da hätten wir Vinyl-Neuauflagen der legendären Twinkle Brothers, die man fast nirgends kaufen kann. Außerdem ein ganz nettes Album des Engländers Claye, das schon fast mehr Urban als Reggae ist. Sublime, den Ska-Punk-Reggae-Surf-Rockern der 90er, wurde ein ausführliches Tribute gesetzt, das viele Highlights enthält. Und der Jamaikaner Runkus hat endlich sein Debüt rausgebracht. Wer das ist und warum das gut ist – demnächst an dieser Stelle. Und das war’s schon.
Ferner erschienen:
AMBIENT, CINEMATIC SOUNDSCAPES, AVANT-POP & CO.:
Elori Saxl
Gacha Bakaradze
RAP:
BRS Kash
Ashnikko
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