„Paradise Again“ ist mindestens so gut und beansprucht so sehr das (Unter-)Bewusstsein, dass mir beim ersten Hördurchlauf fast was im Ofen angebrannt wäre. Also Content-Warnung: Diese Comeback-Platte mogelt sich nicht als lahmes Lebenszeichen durch, sondern hat einige lustige Ablenkung zu bieten. Das skandinavische House-Projekt war eigentlich fast vergessen, wobei der coole Name Swedish House Mafia durchaus zeitlos bleibt.
Die Electro-Tüftler hören sich selbst erstaunlich treu geblieben an. Statt anbiedernd auf Trap abzufahren oder sich von flächigen Tendenzen in der Elektronik vereinnahmen zu lassen, bounzen wieder die melancholisch-euphorischen Analog-Synth-Echokammer-Resonanzen. Zu jedem neuen Tune flackert sofort eine Stroboskop-Show vorm inneren Auge auf. Filler-Tracks tut uns die Mafia keine an, wenn man übers glitschig-poppige „Another Minute“ hinweg hört, wo eine namenlose Stimme dominiert und die Beats sie nicht so recht stützen. Selbst diese vorletzte Nummer hält sich aber im Rahmen des Akzeptablen, manches andere wirkt derweil richtig clever, charismatisch und inspiriert.
Das nunmehr erst dritte und reichhaltige Album der SHM teilt sich gefühlt in zwei Hälften. Die erste punktet mit gelungener und unbeirrter Retromanie inklusive prominenter Feature-Gäste. Dieser Part schreit nach Tanzfläche und Post-Lockdown-Lebenslust. Und irgendwie nach Sommer, Kanaren- und Balearen-Inseln. Die zweite Hälfte verhält sich strukturell wie ein Mixtape, das heißt die Tracks hängen stilistisch noch enger aneinander und laufen – bis auf „Another Minute“ – bruchlos wie ein Set durch. Was daran erinnert, dass die Stockholmer zum Ende ihres Team-Daseins eine DVD mit zwei DJ-Sets veröffentlichten, was ja durchaus Sinn ergibt, wenn man wirklich spannend mixen kann. Der zweite Part von „Paradise Again“ macht zwar einen insgesamt introvertierteren Eindruck als die erste Hälfte, gewinnt aber dadurch an Anspruch. Hier steht weniger die unbedingte Tanzbarkeit, dafür das Hinhören im Vordergrund.
Der Einstieg mutet derweil wohlig-warm an. Paradiesisch und wie ein reines „Again!“ Die Skandinavier kopieren detailgetreu und eins zu eins ihren früheren Stil. Und überzeugen damit. Der ehrliche Retro-Verschnitt markiert, es wäre die Zeit stehen geblieben. Dieser wogende Four-to-the-Floor-Groove brach als Vorhut zur Dancepop-Flut bereits um 2008 über uns, nachdem es in Abgrenzung zu den Eurodance-90ern im Mainstream lange still um alles Rave- und House-Verwandte geworden war und sogar Scooter sich mit einer gescheiterten ESC-Bewerbung geschlagen geben mussten. Die Swedish House Mafia pflegt unterschiedslos ihren Deephouse von einst und bereichert damit die Facetten chartstauglicher EDM jenseits der vielen geklont klingenden Dance-Mucke und den Disco-Reminiszenzen der Purple Disco Machine. Soweit schon mal schön.
Andererseits liest sich die Gästeliste genre-übergreifend und interessant, selbst wenn The Weeknd und Ty Dolla $ign die Klangbausteine der House Mafia keinen Zentimeter verschieben, Sting kein wirklich aktiver Gast, sondern eher Remix-‚Opfer‘ ist, wie auch Mapei und Seinabo Sey eher den mafiösen Auftrag erfüllen als irgendwie eine eigene Note hinzu zu fügen. Seinabo Sey findet man übrigens in einem sehr schönen Beitrag auf Neneh Cherrys aktueller Platte „The Versions“.
A$ap Rocky indes verschiebt hier bei der SHM den Stil. Reizvoll erscheint vor allem, wie man auf A$ap hinleitet. Das Prolog-Instrumental „Mafia“ stellt als eine eher düstere Wendung den Ausreißer dar und ist ein bisschen ‚warpy‘-subversiv, so dass einemn das Londoner Experiment-Label von Autechre & Co. in den Sinn kommt. „Mafia“ zittert wie der Soundtrack zu einer beunruhigenden Tunnelfahrt. Was sich durch die Vorspann-Funktion zu „Frankenstein“ mit A$ap Rocky versteht, für den sich die Schweden als Beatmaker eines astreinen Nu School-Hip Hops hergeben. Textlich armselig („whatta nigga / whatta fuckin‘ bitch / kiss my ass …“), kombiniert die Nummer musikalisch scharf-schneidende, klirrende Melodramatik mit weich abfedernden Waber-Punches. Das Design gefällt.
Als Über-Hit des Albums flasht das behutsam aufgebaute „Don’t Go Mad Now“ mit Seinabo als smarter Soul-Stimme. Ein frozen moment mit retardierender Stille bricht den straight losbrutzelnden Deephouse nach dem ersten Drittel. Hierauf konfrontieren ein zerhackstückter Vokal-Akkord auf der Silbe „now“ und eine thrillende Beat-Dekonstruktion (mit Spiral-Echo) einander. Es entsteht mit 44 Sekunden „no-ow-ow-ow-ow-ow-ow-ow“ einer der längst gezogenen Akkorde der Musikgeschichte. Gut, sowas geht nur mit Mitteln der Elektronik. Selbst die bestphrasierende Jazzakademikerin der Welt würde einen Ton nicht 44 Sekunden lang halten können, ohne zwischen rein zu atmen.
Dass Ty Dolla $ign in einem dezent afrobeatig und powerpoppig aufgemotzten spacy Deephouse mit starker Nineties-Prägung und Raketen-Effekten völlig versumpft, kann man witzig finden. Zudem sprüht der überraschende Sting-‚Auftritt‘ in „Redlight“ vor ganz viel Charme und verknüpft sich super mit den umliegenden Tracks. Sting hat sich schon seit seiner Ethnopop-Kollabo mit Dancehaller Pato Banton immer wieder mal auf fremde Genre-Flächen vergaloppiert, Electro war selten dabei. Das explosive Prog-House-Konstrukt „Redlight“ pitcht The Polices unsterblich schönen Hit „Roxanne“ zu einem kurvenreichen Remake, das sehr gut das Original würdigt und herausputzt.
„Redlight“ legt sich in ein Worldbeat-Chill-Out-Mixtape, das ab „Home“ loslegt. „Home“ ist kein zwingender Hit, jedoch originell, exotisch angespitzt. Geklapper aus maschinellem Handclapping, synthetischen Rasseln und versch(r)obenen Jojo-Beats. Die seltsamen Gesangs-Partikel tänzeln durch Schamanen-Ritual, orientalischen Rai und gregorianische Choräle. Sehr cool! Industrial-Züge trägt die stylish kaputte Puls-Struktur von „It Gets Better“, die ausnahmsweise in abstrakte Warehouse-Elektronik zwischen Detroit-Acid und LFO entflutscht, während „Can U Feel It“ und „19.30“ treibenden Chill-Out auf angenehm hoher Schlagzahl auftischen. Das DJ-Trio zaubert sowohl paradiesische Momente als auch eine Bestätigung seiner Markenzeichen.
„Paradise Again“ von der Swedish House Mafia erschien am Karfreitag, 15. April 2022 bei Republic (Universal).
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Tracklist
1. Time (+ Mapei)
2. Heaven Takes You Home (+ Connie Constance)
3. Jacob’s Note (+ Jacob Mühlrad)
4. Moth To A Flame (+ The Weeknd)
5. Mafia
6. Frankenstein (+ A$ap Rocky)
7. Don’t Go Mad (+ Seinabo Sey)
8. Paradise Again
9. Lifetime (+ Ty Dolla $ign + 070 Shake)
10. Calling On
11. Home
12. It Gets Better
13. Redlight (+ Sting)
14. Can U Feel It
15. 19.30
16. Another Minute
17. For You